AG Hamburg – Az.: 6 C 336/20 – Urteil vom 23.07.2021
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger jeweils 400,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13.09.2020 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird weiter verurteilt, an die Kläger als Gesamtgläubiger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 101,84 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 10.10.2020 zu zahlen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. In Bezug auf den Tenor zu Ziffer 1 sowie wegen der Kosten kann die Beklagte die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leisten.
Tatbestand
Die Kläger begehren von der Beklagten Ausgleichsansprüche nach der VO (EG) Nr. 261/2004 (auch: „Fluggastrechte-VO“) wegen der Annullierung eines von der Beklagten durchzuführenden Fluges.
Die Kläger buchten einen Flug von I. nach H., der am 11.09.2020 von der Beklagten durchgeführt werden sollte. Hierfür erhielten die Kläger eine Buchungsbestätigung. Planmäßiger Abflug des Fluges sollte am 11.09.2020 um 14:00 Uhr in I. und planmäßige Ankunft am 11.09.2020 um 16:55 Uhr in H. sein (Anlage K1).
Mit E-Mail vom 28.08.2020 um 13:41 Uhr teilte die Beklagte den Klägern die Annullierung des Fluges mit. Der geplante Flug wurde von den Klägern daraufhin umgebucht auf einen Flug am 10.09.2020, der von I. nach D. (Flugnummer E. …), planmäßiger Abflug um 14:05 Uhr und von D. nach H. (Flugnummer E. …), planmäßige Ankunft in H. um 19:50 Uhr, führte.
Die Kläger forderten die Beklagte mit Schreiben vom 28.08.2020 unter Fristsetzung bis zum 12.09.2020 zur Zahlung von Ausgleichsleistungen in Höhe von insgesamt 800,00 € auf. Die Beklagte reagierte auf dieses Schreiben nicht. Daraufhin forderten die Kläger die Beklagte mit anwaltlichem Schreiben vom 25.09.2020 zur Zahlung von 800,00 € nebst der durch das Schreiben entstandenen außergerichtlichen Anwaltskosten auf. Dieser Aufforderung kam die Beklagte nicht nach.
Die Kläger sind der Ansicht, ein Ausgleichsanspruch nach der Fluggastrechte-VO bestehe, da die Information über die Annullierung nicht wenigstens zwei Wochen vor Flugantritt erfolgt sei.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 11.05.2021 die Kosten der außergerichtlichen Vertretung in Höhe von 101,84 € nebst Zinsen anerkannt.
Die Kläger beantragen,
1. die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger jeweils 400,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13.09.2020 zu zahlen,
2. die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger als Gesamtgläubiger nicht erstattungsfähige außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 101,84 € nebst Zinsen in Höhe von 5 … Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 10.10.2020 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, die Benachrichtigung der Fluggäste über die Annullierung sei rechtzeitig erfolgt. Im Übrigen sei der Anspruch der Kläger jedenfalls gemäß Art. 7 Abs. 2 lit. b) der Fluggastrechte-VO zu kürzen, da die Fluggäste ihr Reiseziel einen Tag früher als geplant erreicht hätten.
Mit Zustimmung der Parteien, erklärt durch Schriftsatz vom 23.04.2021 sowie Schriftsatz vom 11.05.2021, hat das Gericht durch Beschluss vom 14.06.2021 die Fortsetzung des Rechtsstreits im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO angeordnet.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird gemäß § 313 Abs. 2 S. 2 ZPO auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
I.
Die Klage ist zulässig.
Das Gericht ist international und örtlich zuständig. Die Zuständigkeit ergibt sich aus § 29 ZPO sowie Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel Ia-VO). Denn der streitgegenständliche Flug sollte in H. landen, sodass die Pflichten der Beklagten, die die geltend gemachten Ansprüche auf Ausgleichszahlung als gesetzliche Ansprüche auf vertraglicher Grundlage begründen, (auch) in H. zu erfüllen waren.
II.
Die Klage ist begründet.
1.
Soweit die Beklagte die Klage anerkannt hat, war sie ihrem Anerkenntnis entsprechend zu verurteilen, § 307 ZPO.
2.
Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von je 400,00 € gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. c), 7 Abs. 1 lit. b) Fluggastrechte-VO. Darüber hinaus können die Kläger Zahlung von Zinsen auf die Hauptforderung von der Beklagten gemäß §§ 286, 288 BGB verlangen.
a)
Die Ansprüche gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. c), 7 Abs. 1 lit. b) Fluggastrechte-VO sind wirksam in Höhe von jeweils 400,00 € zugunsten der Kläger entstanden.
aa)
Nach Art. 5 Abs. 1 Fluggastrechte-VO wird Fluggästen bei Annullierung, d.h. Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Fluggastrechte-VO eingeräumt. Nach Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Fluggastrechte-VO erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in Höhe von 400,00 € bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Nach dem von der Beklagten unbestrittenen und damit gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehenden Vortrag der Kläger hatten beide Kläger für den streitgegenständlichen Flug der Beklagten eine bestätigte Buchung. Der von der Beklagten am 11.09.2020, Abflug um 14:00 Uhr durchzuführende Flug wurde annulliert gemäß Art. 2 lit. l) Fluggastrechte-VO. Die Kläger wurden auf einen anderen Flug umgebucht, und sodann über eine andere Flugroute, nämlich von I. über D. nach H., befördert. Die Flugstrecke I. – H. beträgt mehr als 1.500 km.
bb)
Ausschlussgründe gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. c) Fluggastrechte-VO liegen nicht vor.
(1)
Der Anspruch ist nicht wegen Art. 5 Abs. 1 lit. c) i) Fluggastrechte-VO ausgeschlossen. Hiernach sind Ausgleichsansprüche im Falle der Annullierung ausgeschlossen, wenn der Fluggast mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit über die Annullierung unterrichtet wird.
Der Flug nach H. sollte planmäßig am 11.09.2020 um 14.00 von I. erfolgen. Mangels einer eigenständigen Regelung zur Fristenberechnung in der Fluggastrechte-VO richtet sich die Fristberechnung nach nationalem Recht, mithin nach den §§ 186 ff. BGB (vgl. LG Düsseldorf, Urt v. 25.09.2015, 22 S 79/15, NJW-RR 2016, 247).
Bei der Frist des Art. 5 Abs. 1 lit. c) i) der Fluggastrechte-VO handelt es sich um eine so genannte Rückwärtsfrist, weil die Frist nicht von einem gegenwärtigen Ereignis aus zu einem Endzeitpunkt in der Zukunft berechnet wird, sondern von einem gegenwärtigen Ereignis zurückgerechnet wird auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit. Die §§ 186 ff. geltend entsprechend für Rückwärtsfristen. Hierbei endet die Frist analog §§ 187 f. BGB an dem Tag, welcher rückwärts gerechnet nach seiner Benennung dem Ereignistag entspricht. Die betreffende Handlung muss demnach bis zum Ende des dem rückwärts berechneten Tag vorangehenden Tages um 23:59 Uhr vorgenommen werden (vgl. BGH, Beschl. v. 05.06.2013, XII ZB 427/11, NJW 2013, 2199, 2100 Rn. 11).
Die Frist endete im vorliegenden Fall also gerechnet vom Abflugtag (Freitag, der 11.09.2020) am Freitag, den 28.08.2020 um 0 Uhr. Die Information der Kläger hätte daher bis spätestens am 27.08.2020 um 23:59 Uhr erfolgen müssen, so dass die Unterrichtung am 28.08.2020, 13:41 Uhr nicht mehr rechtzeitig i.S.d. Art. 5 Abs. 1 lit. c) i) Fluggastrechte-VO war.
(2)
Dem Anspruch der Kläger steht auch nicht Art. 5 Abs. 1 lit. c) ii) Fluggastrechte-VO entgegen. Ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es den Klägern ermöglicht hätte, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen, wurde den Klägern seitens der Beklagten nicht unterbreitet.
cc)
Anhaltspunkte für eine Befreiung der Beklagten von ihrer Pflicht zur Zahlung der Ausgleichsleistung gemäß Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechte-VO sind nicht vorgetragen oder ersichtlich.
dd)
Der Anspruch ist auch nicht gemäß Art. 7 Abs. 2 lit. b) Fluggastrechte-VO zu kürzen. Hiernach kann das ausführende Luftfahrtunternehmen die Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1 Fluggastrechte-VO um 50 % kürzen, wenn Fluggästen gemäß Art. 8 eine anderweitige Beförderung zu ihrem Endziel mit einem Alternativflug angeboten wird, dessen Ankunftszeit bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 und 3.500 km nicht später als drei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Fluges liegt.
Die Frage, ob einem Luftfahrtunternehmen ein Recht zur Kürzung des Ausgleichsanspruchs gemäß Art. 7 Fluggastrechte-VO nach der Annullierung des ursprünglich geplanten Fluges auch dann zusteht, wenn der Fluggast auf eine Ersatzbeförderung umgebucht wird, deren planmäßige Ankunftszeit erheblich vor den Flugzeiten des annullierten Fluges liegt, ist – soweit für das Gericht ersichtlich – höchstrichterlich noch ungeklärt (vgl. auch Vorabentscheidungsersuchen des LG Kornebeul zum EuGH v. 26.08.2020, C-270/20, juris).
Das Gericht vertritt die Auffassung, dass eine Kürzung des Ausgleichsanspruchs nach Art. 7 Fluggastrechte-VO in diesem Fall nicht angezeigt und die Vorschrift damit im Ergebnis teleologisch zu reduzieren ist. Ziel der vorgesehenen Ausgleichsleistungen ist es gemäß Erwägungsgrund Nummer 2 der Fluggastrechte-VO, den Schaden der Fluggäste auszugleichen, der in einem Zeitverlust und den damit verbundenen erlittenen Unannehmlichkeiten entsteht. Derartige Unannehmlichkeiten bestehen für Fluggäste aber nicht nur bei einer erheblich verspäteten Ankunft, sondern auch, wenn ein – gegenüber dem gebuchten annullierten Flug – erheblich verfrühter Abflug vom Abflugort als Ersatzbeförderung angeboten wird. Die Interessenlage ist in beiden Fällen vergleichbar, da die Terminplanung des Fluggastes beeinträchtigt wird und ihm am Ankunfts- bzw. Abflugsort weniger Zeit als ursprünglich eingeplant zur Verfügung steht. Da die Fluggastrechte-VO ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste bezweckt, würde es nach dem Verständnis des Gerichts dem Willen des Verordnungsgebers widersprechen, wenn im Ergebnis jede noch so frühe Ersatzbeförderung dazu führen würde, dass sich Luftfahrtunternehmen auf eine Kürzung des Ausgleichsanspruchs nach Art. 7 Fluggastrechte-VO berufen könnten.
3.
Die Zinsforderung ab dem 13.09.2020 ergibt sich aus 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB, nachdem die Kläger die Beklagte mit Schreiben vom 28.08.2020 mit Fristsetzung bis zum 12.09.2020 in Verzug gesetzt hatte.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach §§ 708 Nr. 1, Nr. 11, 713 ZPO.