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Psychische Fehlverarbeitung eines Unfallgeschehens – Bagatellunfall und Begehrensneurose

Psychische Belastung nach Verkehrsunfall: Urteil berücksichtigt Vorerkrankungen

Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein hat in seinem Urteil vom 19.03.2024, Az.: 7 U 93/23, teilweise geändertes Schadenersatz zugesprochen, nachdem es um Ansprüche aus einem Verkehrsunfall ging, bei dem der Kläger psychische und physische Verletzungen erlitt, deren unfallbedingte Kausalität und die angemessene Höhe der Entschädigung umstritten waren. Der Kläger wurde für einen Zeitraum von etwa sieben Monaten als unfallbedingt erwerbsunfähig anerkannt, wobei seine psychischen Beeinträchtigungen bis Ende März 2015 als unfallbedingt anerkannt wurden, während später auftretende Beeinträchtigungen aufgrund einer spezifischen Vulnerabilität und unfallunabhängige Umstände nicht dem Unfall zugerechnet wurden.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 7 U 93/23 >>>

✔ Das Wichtigste in Kürze

  • Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein hat im Fall Az.: 7 U 93/23 entschieden.
  • Der Kläger wurde nach einem Verkehrsunfall teilweise entschädigt, wobei die unfallbedingte Erwerbsunfähigkeit auf den Zeitraum bis Ende März 2015 begrenzt wurde.
  • Die Höhe des Schmerzensgeldes wurde auf insgesamt 15.000 € festgesetzt, abzüglich bereits gezahlter 4.000 €.
  • Vorgerichtliche Anwaltskosten wurden auf Basis des anerkannten Schadensersatzanspruchs neu berechnet.
  • Die Berufung führte zur Anpassung der Schadensersatzansprüche, insbesondere des Verdienstausfallschadens und des Schmerzensgeldes.
  • Die psychischen Beeinträchtigungen des Klägers wurden nur bis Ende März 2015 als unfallbedingt anerkannt.
  • Spezifische Vulnerabilität und unfallunabhängige Umstände führten zur Ablehnung weitergehender Ansprüche.

Schadensregulierung bei psychischen Erkrankungen nach Unfällen

Körperliche Verletzungen nach Unfällen sind oftmals offensichtlich. Psychische Folgen sind hingegen nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Dennoch haben Betroffene Anspruch auf Entschädigung, wenn psychische Erkrankungen unfallbedingt auftreten. Allerdings gibt es Fallkonstellationen, in denen die Kausalität fraglich ist.

Vorbelastungen, Fehlverarbeitungen oder nur leichte Unfallfolgen können die Frage aufwerfen, ob die Erkrankung tatsächlich unfallfolgerechtlich anzuerkennen ist. Hier treffen höchstrichterliche Grundsätze wie die Figur der Begehrensneurose oder des Bagatellunfalls zum Haftungsausschluss auf den Einzelfall. Eine differenzierte Betrachtung unter Würdigung aller Umstände ist zur Bestimmung von Anspruchsvoraussetzungen und -höhe unerlässlich.

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➜ Der Fall im Detail


Psychische und physische Folgen nach Verkehrsunfall

Im Zentrum des Falles steht der Verkehrsunfall vom 23. August 2014, bei dem der Kläger, ein zum Unfallzeitpunkt 62-jähriger Motorradfahrer, nach einem Vorfahrtsverstoß durch ein bei der Beklagten versichertes Fahrzeug zu Fall kam. Eine direkte Kollision der Fahrzeuge fand nicht statt.

Psychische Unfallfolgen: Haftungsrecht & Schadensbemessung
Unfallfolgen: Schmerzensgeld & Verdienstausfall trotz Vorerkrankung (Symbolfoto: Bilanol /Shutterstock.com)

Der Kläger erlitt eine später diagnostizierte Rippenfraktur und wurde notärztlich behandelt. Die Haftung der Beklagten als Kfz-Haftpflichtversicherer des Unfallgegners ist grundsätzlich anerkannt. Strittig sind die unfallbedingten psychischen und physischen Beeinträchtigungen des Klägers sowie die Höhe der Schadensersatzansprüche.

Gerichtliche Entscheidung zu Schadensersatzansprüchen

Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein hat in seiner Entscheidung vom 19. März 2024 unter dem Aktenzeichen 7 U 93/23 die Berufungen beider Parteien teilweise berücksichtigt. Es verurteilte die Beklagte zur Zahlung eines Verdienstausfallschadens und eines Schmerzensgeldes an den Kläger, jedoch in geringerer Höhe als gefordert. Die Entscheidung basiert auf der Annahme, dass der Kläger bis Ende März 2015 unfallbedingt erwerbsunfähig war, eine darüber hinausgehende Erwerbsunfähigkeit jedoch aufgrund vorbestehender, unfallunabhängiger Umstände nicht angenommen wurde.

Bedeutung von Vorerkrankungen und psychischer Belastbarkeit

Ein wesentlicher Aspekt der gerichtlichen Entscheidung war die Berücksichtigung der psychischen und physischen Vorerkrankungen des Klägers. Die gerichtlichen Gutachter stellten fest, dass zwar eine unfallbedingte psychische Belastung bis Ende März 2015 vorlag, spätere Beeinträchtigungen jedoch auf die spezifische Vulnerabilität des Klägers zurückzuführen waren. Diese Einschätzung führte zu einer Kürzung der Schadensersatzansprüche.

Rechtsprechung zur Kausalität von Unfallfolgen

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Schleswig-Holstein verdeutlicht die Komplexität der Bewertung von Unfallfolgen, insbesondere wenn Vorerkrankungen und die psychische Verfassung des Geschädigten eine Rolle spielen. Das Gericht folgte dem Grundsatz, dass der Schädiger grundsätzlich auch für psychische Fehlverarbeitungen haftet, sofern diese unmittelbar auf den Unfall zurückzuführen sind. Gleichzeitig wurde betont, dass bei der Schadensbemessung eine spezielle Schadensanfälligkeit oder eine unangemessene Erlebnisverarbeitung des Geschädigten zu berücksichtigen ist.

Umgang mit vorgerichtlichen Anwaltskosten

Ein weiterer Punkt der Entscheidung betraf die Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten. Hierbei wurde deutlich, dass solche Kosten nur im Rahmen des tatsächlich anerkannten Schadensersatzanspruchs erstattungsfähig sind. Diese Festlegung unterstreicht die Bedeutung einer präzisen und realistischen Forderung im Vorfeld gerichtlicher Auseinandersetzungen.

Vorläufige Vollstreckbarkeit und Verzugszinsen

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden. Zudem wurde eine Verzinsung der Schadensersatzansprüche seit dem 11. Dezember 2017 angeordnet, was die finanziellen Konsequenzen für die Beklagte erhöht.

Diese gerichtliche Entscheidung zeigt exemplarisch, wie im deutschen Rechtssystem mit der Komplexität von Unfallfolgen und den damit verbundenen Schadensersatzansprüchen umgegangen wird. Sie unterstreicht die Notwendigkeit einer detaillierten medizinischen und juristischen Bewertung, insbesondere bei der Berücksichtigung von Vorerkrankungen und der psychischen Verfassung des Geschädigten.

✔ Häufige Fragen – FAQ

Was sind psychische Fehlverarbeitungen nach einem Unfall?

Psychische Fehlverarbeitungen nach einem Unfall sind unangemessene oder übermäßige emotionale Reaktionen auf das traumatische Erlebnis. Dabei handelt es sich um eine normalpsychologische Reaktion, bei der Betroffene intensive Angst, Besorgnis, Hilflosigkeit oder Überforderung empfinden.

Typische Symptome einer psychischen Fehlverarbeitung sind anhaltende Ängste, depressive Verstimmungen, sozialer Rückzug, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen, Reizbarkeit und körperliche Beschwerden wie Kopf- oder Gliederschmerzen. Betroffene erleben oft Schuld- und Schamgefühle und entwickeln ein negatives Selbst- und Weltbild. Manche leiden unter Flashbacks und Alpträumen, bei denen sie das Unfallgeschehen immer wieder durchleben.

Ob eine psychische Reaktion nach einem Unfall als „normal“ oder behandlungsbedürftig einzustufen ist, hängt von der Dauer und Intensität der Symptome ab. Klingen diese innerhalb von 4 Wochen nicht ab, kann von einer psychischen Störung wie einer Akuten Belastungsreaktion, Anpassungsstörung oder Posttraumatischen Belastungsstörung ausgegangen werden. Etwa jeder 3. bis 4. Schwerverletzte entwickelt längerfristig eine solche Störung.

Risikofaktoren für psychische Fehlverarbeitungen sind eine ausgeprägte Anfangssymptomatik, eine Verschlechterung der erlebten sozialen Unterstützung nach dem Unfall sowie psychische Vorbelastungen. Auch Gefühle von Hilflosigkeit während des Unfalls erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Folgestörung.

Um einer Chronifizierung vorzubeugen, sollten Betroffene mit starken emotionalen Reaktionen frühzeitig psychologische Unterstützung erhalten. Ziel ist es, eine angemessene Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses zu fördern und in den Alltag zurückzufinden. Dafür stehen Kriseninterventionen und traumaspezifische Psychotherapien zur Verfügung.

Wie wird der Schadensersatz bei psychischen Unfallfolgen berechnet?

Die Berechnung des Schadensersatzes bei psychischen Unfallfolgen erfolgt individuell und richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle:

Zunächst muss festgestellt werden, dass die psychischen Beeinträchtigungen tatsächlich unfallbedingt sind. Es muss also ein Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den psychischen Folgen bestehen. Dafür ist meist ein psychologisches Gutachten erforderlich.

Psychische Unfallfolgen stellen einen immateriellen Schaden dar, der nicht am Vermögen, sondern an der Persönlichkeit des Geschädigten eintritt. Ein solcher Schaden ist dem Schädiger zuzurechnen, wenn er auf der unfallbedingten Verletzung beruht. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die psychischen Folgen eine organische Ursache haben.

Die Höhe des Schadensersatzes für psychische Unfallfolgen bemisst sich in erster Linie am Schmerzensgeld. Dieses soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für die erlittenen Schmerzen und Leiden bieten. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind Faktoren wie die Schwere und Dauer der psychischen Beeinträchtigungen, die Auswirkungen auf die Lebensführung und die Erfolgsaussichten einer Behandlung zu berücksichtigen.

Konkrete Anhaltspunkte für die Höhe des Schmerzensgeldes liefern Schmerzensgeldtabellen, die auf Grundlage von Gerichtsentscheidungen erstellt werden. Allerdings handelt es sich dabei nur um Orientierungswerte. Letztlich muss die Entschädigung für psychische Unfallfolgen immer auf den Einzelfall bezogen festgesetzt werden.

Neben dem Ausgleich der immateriellen Schäden dient das Schmerzensgeld auch der Genugtuung des Geschädigten. Daher fließen bei der Bemessung auch das Verschulden des Schädigers und seine wirtschaftlichen Verhältnisse mit ein. Das Schmerzensgeld soll den Schädiger fühlbar belasten, darf ihn aber nicht finanziell ruinieren.

Insgesamt lässt sich die Höhe des Schadensersatzes bei psychischen Unfallfolgen nicht schematisch berechnen. Vielmehr bedarf es einer Gesamtabwägung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, um eine angemessene Entschädigung des Opfers zu erreichen. Dabei müssen die Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes gleichermaßen berücksichtigt werden.

Welche Rolle spielen Vorerkrankungen bei der Schadensersatzberechnung?

Vorerkrankungen können bei der Schadensersatzberechnung eine wichtige Rolle spielen, da sie die Bewertung der Unfallfolgen und die Höhe der Entschädigung beeinflussen können. Dabei sind verschiedene Konstellationen zu unterscheiden:

Verschlimmerung einer Vorerkrankung: Wenn eine bereits bestehende Erkrankung durch den Unfall verschlimmert wird, muss der Schädiger nur für die unfallbedingte Verschlechterung des Gesundheitszustands einstehen. Der Geschädigte ist so zu stellen, wie er ohne den Unfall stünde. Für den vorbestehenden Gesundheitsschaden haftet der Schädiger nicht.

Aktivierung einer Anlage: Wenn der Unfall eine bisher symptomlose Krankheitsanlage aktiviert, haftet der Schädiger grundsätzlich für den gesamten Gesundheitsschaden. Denn die bloße Anlage zu einer Erkrankung stellt noch keinen Schaden dar. Entscheidend ist, dass erst der Unfall den Schaden ausgelöst hat.

Verlängerung der Behandlungsdauer: Wenn Vorerkrankungen die Heilung der Unfallverletzungen erschweren und verlängern, muss der Schädiger auch für die verlängerte Behandlungsdauer einstehen. Denn der Geschädigte ist so zu stellen, wie er wäre, wenn der Unfall nicht passiert wäre. Die Vorerkrankung ändert daran nichts.

Vorschädigung der Psyche: Auch bei psychischen Unfallfolgen ist zu prüfen, ob bereits vor dem Unfall eine psychische Vorschädigung bestand. War dies der Fall, muss differenziert werden, welche Beeinträchtigungen unfallbedingt sind und welche auf die Vorerkrankung zurückgehen. Nur für die unfallbedingten Folgen kann Schadensersatz verlangt werden.

Mitverschulden des Geschädigten: Wenn der Geschädigte seine Vorerkrankung verschwiegen oder eine gebotene Behandlung unterlassen hat, kann ihm ein Mitverschulden anzulasten sein. Dies kann zu einer Kürzung des Schadensersatzanspruchs führen. Allerdings darf die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten nicht überspannt werden.

Insgesamt müssen Vorerkrankungen bei der Schadensersatzberechnung sorgfältig berücksichtigt werden. Es ist immer eine differenzierte Betrachtung erforderlich, um den unfallbedingten Schaden von vorbestehenden Beeinträchtigungen abzugrenzen. Nur so kann eine angemessene Entschädigung des Geschädigten erreicht werden, ohne den Schädiger unangemessen zu belasten.

Wie kann man seine Ansprüche nach einem Unfall geltend machen?

Um seine Ansprüche nach einem Unfall geltend zu machen, sollte man systematisch vorgehen und verschiedene Schritte beachten:

  • Beweissicherung: Zunächst sollte man alle relevanten Beweise sichern, die den Unfallhergang, die Verantwortlichkeit und die erlittenen Schäden dokumentieren. Dazu gehören Fotos vom Unfallort, Zeugenaussagen, ärztliche Atteste und Rechnungen. Je besser der Unfall dokumentiert ist, desto leichter lassen sich die Ansprüche durchsetzen.
  • Anzeige bei der Versicherung: Als nächstes sollte man den Unfall unverzüglich der eigenen Versicherung melden, sofern eine Haftpflicht-, Unfall- oder Kaskoversicherung besteht. Die Versicherung wird dann den Schaden regulieren und gegebenenfalls Schadensersatz leisten. Wichtig ist, dass man gegenüber der Versicherung keine voreiligen Zugeständnisse macht oder auf Ansprüche verzichtet.
  • Anspruchsschreiben an den Schädiger: Wenn der Unfallgegner nicht versichert ist oder die Versicherung den Schaden nicht vollständig reguliert, kann man seine Ansprüche direkt gegenüber dem Schädiger geltend machen. Dazu sollte man ihn schriftlich unter Fristsetzung zur Zahlung von Schadensersatz auffordern. Dem Schreiben sollten alle relevanten Unterlagen beigefügt werden, die den Anspruch belegen.
  • Einschaltung eines Rechtsanwalts: Reagiert der Schädiger nicht oder bestreitet er seine Haftung, ist es ratsam, einen spezialisierten Rechtsanwalt einzuschalten. Dieser kann die Ansprüche außergerichtlich durchsetzen, indem er mit dem Schädiger verhandelt und gegebenenfalls Klage einreicht. Gerade bei komplexen Sach- und Rechtsfragen ist anwaltliche Unterstützung oft unerlässlich.
  • Klage vor Gericht: Wenn eine außergerichtliche Einigung nicht möglich ist, muss man seine Ansprüche gerichtlich durchsetzen. Dazu muss man Klage beim zuständigen Zivilgericht einreichen. Im Prozess muss man dann seinen Anspruch und die erlittenen Schäden substantiiert darlegen und beweisen. Kommt es zum Prozess, ist anwaltliche Vertretung in den meisten Fällen erforderlich.

Insgesamt ist es wichtig, dass Geschädigte ihre Ansprüche nach einem Unfall zeitnah und konsequent geltend machen. Je länger man wartet, desto schwieriger wird die Durchsetzung. Auch sollte man sich nicht scheuen, anwaltlichen Rat einzuholen, um seine Rechte effektiv wahrzunehmen. Nur so kann man eine angemessene Entschädigung für die erlittenen Schäden erreichen.

§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils

  • § 7 StVG (Straßenverkehrsgesetz) Regelung der Haftung bei Schäden durch den Betrieb eines Kraftfahrzeugs. Relevant für die grundsätzliche Haftung der Versicherung des Unfallverursachers.
  • §§ 823 Abs. 1, 249 ff. BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) Umfasst Ansprüche wegen unerlaubter Handlungen und daraus resultierender Schadensersatzpflicht, einschließlich der Regeln zur Schadensberechnung und -ersatz.
  • § 115 VVG (Versicherungsvertragsgesetz) Bestimmt die Direktansprüche des Geschädigten gegen die Kfz-Haftpflichtversicherung des Schädigers.
  • § 253 BGB Regelung zu immateriellen Schäden, die Grundlage für Schmerzensgeldansprüche bildet, relevant für die Bewertung psychischer Folgen eines Unfalls.
  • § 286 BGB Bestimmt die Voraussetzungen des Verzugs, relevant für die Zinsansprüche auf Schadensersatzleistungen ab Verzugseintritt.
  • § 288 BGB Regelung der Höhe von Verzugszinsen, wichtig für die Berechnung der Zinsen auf den zugesprochenen Schadensersatz.
  • § 252 BGB „Entgangener Gewinn“ als Schadensposten, besonders relevant für die Berechnung des Verdienstausfallschadens bei Selbständigen.
  • § 11 StVG Spezifiziert die Ansprüche bei Körperverletzung oder Tötung, grundlegend für die Bestimmung von Schmerzensgeld.
  • ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision) Nicht direkt ein Rechtsbereich, aber für die medizinisch-juristische Bewertung der Unfallfolgen, wie psychische Störungen, relevant.
  • § 256 ZPO (Zivilprozessordnung) Regelung des Feststellungsinteresses, relevant für die Zulässigkeit von Feststellungsklagen bezüglich zukünftiger Schäden.


Das vorliegende Urteil

Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 7 U 93/23 – Urteil vom 19.03.2024

Auf die Berufungen der Beklagten vom 10.07.2023 und des Klägers vom 17.07.2023 wird das am 15.06.2023 verkündete Urteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe – unter Zurückweisung der Berufungen im Übrigen – teilweise geändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Verdienstausfallschaden i.H.v. 8.772,01 € sowie ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 11.000,00 € jeweils zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.12.2017 und vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 1.171,67 € zu zahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

4. Von den Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen tragen der Kläger 91 % und die Beklagte 9 %.

5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch die jeweils andere Partei durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um Ansprüche nach einem Verkehrsunfall.

Der am 1952 geborene Kläger nimmt die Beklagte als Kfz-Haftpflichtversicherer auf materiellen und immateriellen Schadenersatz sowie umfassende Feststellung aus einem Verkehrsunfall in Anspruch.

Am 23.08.2014 gegen 21:00 Uhr kam der Kläger auf der A- Straße in P. mit seinem Motorrad zu Fall, nachdem ihm durch ein bei der Beklagten versichertes Fahrzeug die Vorfahrt genommen wurde. Zu einer Kollision der beteiligten Fahrzeuge kam es dabei nicht. Die volle Haftung der Beklagten als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners ist dem Grunde nach unstreitig. Der Kläger wurde noch am Unfallort notärztlich behandelt und ins Universitätsklinikum E. eingeliefert, wo er vom 23.08.2014 bis 02.09.2014 stationär behandelt wurde. Der Kläger erlitt durch den Unfall eine – allerdings erst später diagnostizierte – Fraktur der 8. Rippe rechts. Vom erstversorgenden Notarzt wurde eine Glasgow-Coma-Scale (GCS) von 7 ermittelt. Um die Atemwege freizuhalten, kam es noch am Unfallort zu einer Propofolnarkose mit einer Intubation des Klägers. Ob er unfallbedingt ein Schädel-Hirn-Trauma und/oder psychische Beeinträchtigungen erlitten hat, ist streitig.

Nach dem Entlassungsbericht zeigte sich seinerzeit kein neurologisches Defizit. Auf Seite 4 des Berichts heißt es unter anderem „zudem unruhig-überreizt“, „Patient psychomotorisch angespannt-hypersensitiv auffällig“ und „psychomotorische Unruhe“. Als Empfehlung wurde die Vorstellung zur stationären Aufnahme in einer psychosomatischen Klinik ausgesprochen. Zur Diagnose heißt es „Motorradunfall mit Verdacht auf Schädel-Hirn-Trauma“, auf Seite 4 des Berichts „Verdacht auf leichtes SHT“. Auf Seite 5 des Berichtes heißt es weiter, einzelne Rippenprellungen könnten nicht nachgewiesen werden. Zum Ergebnis einer Computertomografie vom Hirnschädel am 23.08.2004 heißt es auf Seite 7 des Berichts unter Beurteilung: „Kein wegweisender pathologischer Befund, insbesondere kein Anhalt für frische Ischämie bei CT-grafisch regelrechter Gefäßdarstellung. Keine intrakranielle Traumafolge, kein Frakturnachweis“. Die Rippenfraktur wurde zunächst unstreitig im Universitätsklinikum E. nicht erkannt.

Noch am Entlassungstag, dem 02.09.2014, erschien der Kläger bei seinem Hausarzt Dr. B., in dessen Praxis er seit 2003 medizinisch betreut wird. Er berichtete dort von seiner Situation. In einem Attest dieses Arztes vom 26.06.2019 heißt es unter anderem:

„Gesundheitszustand bei Verunfallung: Herr X. befand sich nach erfolgreicher psychologischer Behandlung sowie Genesung seines Hüftleidens in guter körperlicher Verfassung, plante einen Urlaub mit seinen Söhnen. Gesundheitszustand nach dem Unfall vom 23.8.2014: Herr X. erschien am 02.09.2014 in meiner Praxis und gab an, am heutigen Tag nach einem schweren Verkehrsunfall aus dem Krankenhaus entlassen worden zu sein. Wir erlebten einen Patienten, wie wir ihn bisher nicht gekannt haben. Er erschien völlig verzweifelt, traumatisiert, unkonzentriert, hilflos. Am darauffolgenden Tag musste Herr X. dann als Notfall ins Krankenhaus W. eingewiesen werden.“

Eine stationäre Aufnahme im Krankenhaus W. ab 03.09.2014 ist nicht belegt, jedoch befand sich der Kläger vom 04.09. bis 11.09.2014 in stationärer Behandlung im Klinikum P. In dem mit der Anlage K 4 auszugsweise vorgelegten Entlassungsbericht vom 11.09.2014 heißt es unter der Überschrift „Diagnosen“: „Zustand nach Motorradunfall 23.08.14 mit leichtem Schädel-Hirn-Trauma frische Fraktur Costa 8 rechts mit geringer Pleuraerguss links Nebenbefundlich ältere, knöchern konsolidierte Fraktur Costa 8-10 links Sinusitis ethmoidalis bds. Bekannte Depression Verdacht auf Somatisierungsstörung“. Am 05.09.2014 wurden weitere Computertomographien (CT) der Halswirbelsäule (HWS), des Neurokraniums und des Abdomens angefertigt, es wurde eine Steilstellung der HWS und deutliche degenerative Veränderungen des alantoaxialen Gelenkes und der unteren Segmente der HWS festgestellt, kein Frakturnachweis, kein Hinweis für Luxation, regelrechtes Alignement, kein Nachweis einer paravertebralen Einblutung. Die Beurteilung des CTs des Neurokraniums war unauffällig. Das CT des Abdomens ergab unter anderem neben einer älteren Rippenfraktur linksseitig eine erkennbare frische Fraktur der 8. Rippe rechts dorsal und eine Einblutung.

Vom 01.01.2015 bis 07.01.2015 fand ein stationärer Aufenthalt des Klägers in der Neurologie der Klinik A. statt. Zur Diagnose heißt es hier „Chronisches Halswirbelsäulensyndrom bei Zustand nach leichtem SHT und HWS-Schleudertrauma (8, 2014), Neuroforamenstenose HWK 5/6 rechts“. Die Aufnahme erfolgte laut Bericht wegen Schmerzen im Halswirbelsäulenbereich, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen und Schwindelanfällen. Vom 25.02. bis 26.03.2015 befand sich der Kläger in stationärer psychiatrischer Behandlung im Klinikum H., Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie. Nach dem Entlassungsbericht vom 08.04.2015 war Aufnahmeanlass eine „elektive Einweisung nach notfallmäßiger Vorstellung in der ZA des allein lebenden Vaters zweier erwachsener Söhne“. Laut Ambulanzbericht der S.-Klinik vom 02.03.2015 soll sich der Kläger am 27.02.2015 (also während der zuvor dargestellten stationären psychiatrischen Behandlung) in der dortigen Ambulanz vorgestellt haben, in dem eingangs als Diagnose ein „Zustand nach schweren Schädel-Hirn-Traumen im August 2014“ erwähnt ist. Vom 08.04.2015 bis 21.05.2015 befand sich der Kläger wiederum in einer stationären psychiatrischen bzw. psychosomatischen Behandlung im Klinikum H., Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie/Schmerztherapie. Vom 30.10. bis 19.11.2015 und vom 06.04.2016 bis 04.05.2016 war der Kläger erneut in stationärer psychosomatischer Behandlung dieser Klinik. In dem als Anlage K6 eingereichten Bericht heißt es auf Seite 5 unter der Überschrift Therapie und Verlauf unter anderem (vorletzter Abschnitt):

„Wir sahen den Konflikt um Selbstwert als sehr bedeutsam an. Der Modus der Konfliktverarbeitung war gemischt, eher aktiv. Wir verstanden die Beschwerden und die Schwierigkeiten des Patienten als Ausdruck einer massiven narzisstischen Regulationsstörung, die durch die körperliche Einschränkung nach dem Unfall ausgelöst wurde. Eine Stabilisierung konnte der Patient bislang immer über die altruistische Zuwendung erreichen, dies scheiterte nun kurz vor dem zweiten stationären Aufenthalt des Patienten, da er im Kontakt mit den Enkelsöhnen nicht mehr zur Verfügung stehen und diese „retten“ kann. Auch scheint deren lebensbedrohliche Situation ihn sehr zu belasten, da offensichtlich eigene Todesängste mobilisiert werden, mit Gefühlen des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit und auch Wut, die für den Patienten kaum zu regulieren sind. Die Struktur gesamt schätzen wir als gering integriert ein, mit vor allem deutlichen Schwierigkeiten in der Selbstregulierung und der Regulierung des Objektbezugs“.

Eine weitere stationäre Aufnahme in der Klinik erfolgte vom 25.9.2017 bis zum 14.11.2017. Im entsprechenden Bericht vom 22.11.2017 heißt es unter anderem unter der Überschrift Therapie und Verlauf im vorletzten Abschnitt: „Wir verstanden die Problematik des Patienten als Ausdruck einer Beschädigung seiner körperlichen und psychischen Integrität, die durch den Unfall vor 3 Jahren ausgelöst wurde“.

Der inzwischen 71 Jahre alte Kläger ist als Drittältester von insgesamt 10 Geschwistern bis zu seinem 17. Lebensjahr bei seinen Eltern in beengten räumlichen Verhältnissen, einer Art Barackenlager mit zwei Zimmern ohne Heizung und fließend Wasser, aufgewachsen. Nach dem Hauptschulabschluss absolvierte er eine Lehre zum Stahlbauschlosser mit einer Zusatzausbildung zum Schweißer. Nach zwischenzeitlicher Tätigkeit auf dem Bau hat er sich selbständig gemacht und viele Jahre als Subunternehmer für die HH-Y im Hamburger Hafen als Schlosser/Schweißer in der Containerschifffahrt gearbeitet. Vom 17.08.2012 bis zum 05.01.2014 war er u. a. wegen Hüftbeschwerden arbeitsunfähig erkrankt. Schon vor dem Unfall litt der Kläger unter Depressionen und degenerativen Veränderungen der HWS. In der Zeit vom 03.06.2011 bis zum 06.07.2011 wurde er mit der Diagnose einer „depressiven Störung und chronischen Schmerzstörung“ in der S.-Klinik stationär behandelt. Der Kläger hat zwei erwachsene Söhne und zwei Enkelkinder (Zwillinge), seine Ehefrau verstarb bereits 2010 an den Folgen eines Lungenkarzinoms.

Der Kläger war während seiner Berufstätigkeit bei der AOK freiwillig gesetzlich krankenversichert. Da er nur eine kleine gesetzliche Rente bezieht (ca. 285,00 € monatlich), wird er derzeit von seinen beiden Söhnen, die beide selbständig sind, mit monatlichen Zahlungen von insgesamt 1.250,00 € unterstützt.

Der Kläger hat mit der Klage Verdienstausfall für die Jahre 2014 bis 2016 geltend gemacht und seiner Berechnung einen monatlichen Verdienst von 4.690,73 € aus selbstständiger gewerblicher Tätigkeit als Schlosser zugrunde gelegt. Er hat sich hierbei das gezahlte Krankengeld anrechnen lassen und zwar für das Jahr 2014 um 10.101,24 €, für das Jahr 2015 um 33.620,40 € und für das Jahr 2016 um 6.630,69. Des Weiteren hat er neben der Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten und der Feststellung einer Eintrittspflicht der künftigen materiellen und immateriellen Schäden ein ins Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 90.000 € geltend gemacht, auf das die Beklagte vorgerichtlich 4.000 € gezahlt hatte.

Der Kläger hat behauptet, seine durch den Unfall verursachten Beschwerden mit Ausnahme der Rippenfraktur seien nicht ausgeheilt. Er leide weiterhin unter einer chronischen Schmerzstörung, einem HWS-Trauma, einem Schädel-Hirn-Trauma, Schwindel, Taumel und Schlafstörungen sowie einer depressiven Störung und an einem posttraumatischen Belastungssyndrom.

Das zunächst von dem Landgericht am 10.09.2020 verkündete Urteil, in dem von einer zeitlich begrenzten Haftung aus Gründen der Kausalität bis zum 31.12.2014 ausgegangen wurde, ist durch Urteil des Senats vom 08.06.2021 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen worden.

Der Kläger hat im ersten Rechtszug zuletzt beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 80.988,11 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.12.2017 sowie ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, aber wenigstens 90.000,00 € betragen sollte, zu zahlen,

2. festzustellen, dass die Beklagte ihm zum Ersatz aller materiellen und derzeit noch nicht eingetretenen immateriellen Schäden aufgrund des Verkehrsunfalls vom 23.08.2014 verpflichtet ist, soweit diese nicht auf Sozialleistungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden,

3. die Beklagte zur Zahlung weiterer 4.066,11 € an ihn zu verurteilen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Urteil vom 30.05.2023 nach Beweisaufnahme (Verwertung des gerichtlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. F. vom 05.07.2019 aus dem Verfahren Landgericht I. 3 O xxx/17 gemäß § 411 ZPO sowie Einholung eines psychiatrischen Gutachtens der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie L. vom 24.03.2022 sowie die ergänzende Stellungnahme vom 11.10.2022) dem Kläger einen Erwerbsschaden für die Zeit vom 23.08.2014 bis Ende 2015 in Höhe von 63.706,05 € zugesprochen und im Übrigen die Haftung der Beklagten für materielle und immaterielle Unfallschäden festgestellt. Daneben hat das Landgericht dem Kläger über bereits gezahlte 4.000 € ein Schmerzensgeld in Höhe von weiteren 6.000 € (d. h. insgesamt 10.000 €) zuerkannt.

Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass beim Kläger über die unstreitige Verletzung der Rippenfraktur hinaus ein inzwischen unfallursächliches ausgeheiltes Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades vorgelegen habe. Zudem habe er durch den Unfall eine akute Belastungsreaktion erlitten, die dann in eine Anpassungsstörung übergegangen sei. Es bestehe die Diagnose einer chronischen Schmerzstörung mit seelischen und körperlichen Faktoren, die sich vor dem Hintergrund einer Störung in der Schmerzverarbeitung im Rahmen der strukturellen Störung im Persönlichkeitsaufbau mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen in dem jetzt festzustellenden Ausmaß habe entwickeln können. Eine neurotische Begehrenshaltung, die den Schutzzweckzusammenhang entfallen ließe, sei zwar nicht ganz fernliegend, könne aber nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden. Eine zeitliche Begrenzung der Unfallursächlichkeit, die durch Dr. F. bis zum 31.12.2014, und nachfolgend im Gutachten L. bis einschließlich März 2015 angenommen wurde, sei nicht vorzunehmen. Ein Schädiger müsse nämlich auch für Folgeschäden aufgrund einer psychischen Anfälligkeit des Verletzten oder dessen neurotischer Fehlverarbeitung haftungsrechtlich einstehen. Unter dem Gesichtspunkt der überholenden Kausalität (Reserveursache) fehle es an einer Zurechnung nur dann, wenn der Erwerbsschaden oder die vermehrten Bedürfnisse infolge einer bereits vorhandenen Erkrankung oder Disposition auch ohne das schadenstiftende Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz oder teilweise eingetreten wären. Das sei zweifelhaft, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit genüge insoweit nicht. Ein bloßer Bagatellunfall läge nicht vor.

Bei der Schadenshöhe hat das Landgericht ein monatliches Bruttoeinkommen von 4.842,11 € aus dem Steuerbescheid von 2012 hergeleitet und hieraus einen Jahresverdienst von 58.105,32 € abgeleitet. Hiervon hat es die unstreitigen Krankengeldzahlungen für die Jahre 2014 (10.101,24 €) und 2015 (33.620,40 €) abgezogen. Vom so ermittelten Verdienstausfall für den Zeitraum 23.08.2014 bis 31.12.2016 (von 95.562,08 €) hat es wegen der Berücksichtigung von Krankheitsausfällen pauschal ein Drittel abgezogen und so einen Schaden von 63.706,05 € ermittelt (95.562,08 ./. 31.854,03). Der Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten sei auf 3.323,55 € zu begrenzen. Der Schmerzensgeldanspruch sei mit 10.000 € angemessen, worauf gezahlte 4.000 € anzurechnen seien. Wegen des unfallbedingt erlittenen Dauerschadens stehe dem Kläger ein Anspruch auf Feststellung der zukünftigen Schadensersatzpflicht der Beklagten für materielle und immaterielle Schäden zu.

Gegen dieses Urteil wendet sich einerseits der Kläger mit der Berufung, mit der er einen höheren Verdienstausfallschaden (weitere 17.282,06 €) sowie die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens weiteren 80.000 € und die Erstattung weiterer vorgerichtlicher Anwaltskosten geltend macht.

Der Kläger führt zur Begründung im Wesentlichen aus, die Gewinnermittlung durch das Landgericht werde nicht beanstandet, allerdings sei der Abzug von 1/3 nicht geboten. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger während seines gesamten Berufslebens regelmäßig längere Ausfallzeiten aufgrund von Krankheiten gehabt habe. Seine Hüfte sei auf ärztlichen Rat hin konservativ behandelt worden. Eine Hüftverletzung heile im Regelfall folgenlos aus, so dass keine weiteren Zeiten der Arbeitsunfähigkeit zu erwarten seien. Es gäbe keinen Erfahrungssatz, dass Selbstständige einen um 1/3 höheren Gewinn hätten, wenn es zuvor keine Krankheiten gegeben hätte. Desgleichen erhöhe sich bei Selbstständigen das Risiko einer Arbeitsunfähigkeit mit zunehmendem Alter nicht um 1/3. Das Schmerzensgeld sei zu gering. Er befinde sich dauerhaft in ärztlicher Behandlung (ambulant und stationär) und müsse starke Schmerzmittel einnehmen. Er sei seit dem Unfall bis weiterhin ununterbrochen arbeitsunfähig und habe sich sozial zurückgezogen. Das Ausmaß seiner Leiden ergäbe sich beispielhaft aus dem Entlassungsbericht vom 22.11.2017.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, an ihn weitere 17.282,06 € sowie ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, aber wenigstens weitere 80.000 €, betragen sollte zzgl. Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.12.2017 sowie weitere 4.066,11 € zu zahlen, sowie die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen sowie die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, das Landgericht habe die ernsthaften Risiken in der Person des Klägers verkannt, die auch unter Berücksichtigung des Beweismaßes des § 287 ZPO geeignet seien, seine Erwerbsfähigkeit zu beeinträchtigen. Dies seien zum einen die deutlichen strukturellen Defizite im Persönlichkeitsaufbau des Klägers mit narzisstischer Akzentuierung. Zum anderen trete die Erkenntnis hinzu, nicht ausreichend Rücklagen für das Alter geschaffen zu haben, weiterhin die lebensbedrohliche Situation der Zwillingsenkelkinder, schließlich die Wahrnehmung altersbedingter Einschränkungen und Verschleißbeschwerden. Derartige Umstände seien aber gerade als solche zu qualifizieren, mit denen ein jeder, der eine mehr, der andere weniger, „im Lebenskampf“ konfrontiert werde. Die Benennung eines konkreten weiteren Ereignisses im Sinne „eines Tropfens, der das Fass zum Überlaufen“ gebracht hätte, habe es im vorliegenden Fall nicht bedurft. Damit könnte nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, dass der Kläger noch ab April 2015 unfallbedingt arbeitsunfähig gewesen sei. Jedenfalls wären seine Ansprüche deshalb um mindestens 2/3 zu kürzen. Bei der Schadensberechnung habe das Landgericht zu Unrecht mit Bruttobeträgen gerechnet. Zudem habe der Kläger während seiner Erwerbsunfähigkeit keine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung abführen müssen, was gleichfalls zu berücksichtigen sei. Die AOK habe beispielhaft bei der Beklagten vom 13. September 2014 bis zum 14. November 2014 entfallene KV-Beiträge in Höhe von 439,43 € sowie 564,98 € und 292,95 € regressiert. Da der Kläger seit April 2015 nicht mehr unfallbedingt gesundheitlich beeinträchtigt sei, stehe ihm auch kein Feststellungsanspruch zu.

Der Senat hat den Kläger im Termin am 27.02.2024 ergänzend angehört. Mit nicht nachgelassenem Schriftsatz vom 02.03.2024 hat der Kläger wiederholend und ergänzend in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vorgetragen.

II.

Die Berufung der Beklagten führt zur Absenkung des bezifferten Verdienstausfallschadens (dazu unter 1.) und zur Abweisung des Klagantrags hinsichtlich des Feststellungsbegehrens (dazu unter 3.), auf die Berufung des Klägers ist ein höherer Schmerzensgeldbetrag zuzuerkennen (dazu unter 2). Im Übrigen bleiben beide Berufungen ohne Erfolg und unterliegen der Zurückweisung.

1) Materieller Schadensersatz

Dem Kläger steht ein Anspruch gegen die Beklagte auf Ersatz von Verdienstausfall für den Zeitraum vom 23.08.2014 bis zum 31.03.2015 aus § 7 StVG, §§ 823 Abs. 1, 843, 249 ff., 252 BGB, § 115 VVG in Höhe von 8.772,01 € zuzüglich Zinsen zu. Der weitergehende Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfallschadens ist mangels Nachweises eines unfallbedingten Dauerschadens unbegründet.

Auch wenn die Beklagte umfassend Berufung eingelegt hat, geht aus ihrer Begründung hervor, dass sie die Unfallbedingtheit der psychiatrischen Erkrankung des Klägers bis Ende März 2015 nicht mehr in Abrede stellt. Soweit das Landgericht eine darüberhinausgehende Unfallbedingtheit bis Ende 2016 (also für den gesamten bezifferten Zeitraum) angenommen hat, ist die Berufung der Beklagten erfolgreich (dazu unter a). Abzüge bei der Schadenhöhe ergeben sich auch aufgrund von Fehlern in der Berechnung (dazu unter b).

a) Keine Unfallbedingtheit der Erwerbsunfähigkeit ab April 2015

Aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist zu schließen, dass der Kläger nur bis Ende März 2015 unfallbedingt erwerbsunfähig war. Die zeitlich nachfolgende Berufs- und Arbeitsunfähigkeit hat andere, unfallunabhängige Ursachen, die auf die spezifische Vulnerabilität des Klägers zurückzuführen sind, deren klinische Zeichen bereits vor dem Unfall vorhanden waren.

Für die Beurteilung des Vorliegens der Erkrankung über März 2015 hinaus gilt das Beweismaß des § 287 ZPO. Bei der Prüfung des Kausalzusammenhangs ist zwischen der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität zu unterscheiden. Während die haftungsbegründende Kausalität den Kausalzusammenhang zwischen der Verletzungshandlung und der Rechtsgutverletzung betrifft, d. h. dem ersten Verletzungserfolg (Primärverletzung), bezieht sich die haftungsausfüllende Kausalität auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen der primären Rechtsgutverletzung und – hieraus resultierenden – weiteren Gesundheitsschäden des Verletzten (Sekundärschäden). Für den Sekundärschaden gilt das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO, d. h. zur Überzeugungsbildung kann eine hinreichende bzw. überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen (vgl. BGH, Urteil vom 29.01.2019, VI ZR 113/17, r+s 2019, 353, 354).

Hier ist zunächst zu berücksichtigen, dass eine jedenfalls für einen gewissen Zeitraum vorliegende Unfallbedingtheit der psychischen Beeinträchtigung des Klägers im zweiten Rechtszug unstreitig geworden ist. Die Beklagte hatte bereits gegen das erste Urteil des Landgerichts vom 10.09.2020, das eine „Akute Belastungsreaktion“ (F43.0 nach ICD10) und nachfolgend eine „Anpassungsstörung (F43.2)“ bis zum 31.12.2014 angenommen hatte, keine Berufung eingelegt. Nunmehr beruft sie sich mit der Begründung ihrer Berufung ausdrücklich darauf, dass jedenfalls über Ende März 2015 hinaus keine Unfallbedingtkeit mehr anzunehmen sei. Sie akzeptiert somit, dass eine psychische Reaktion des Klägers infolge des Unfalls zumindest bis Ende März 2015 eingetreten ist. Dies ist dann auch vom Senat – mangels entsprechender Berufungsangriffe – der Entscheidung zu Grunde zu legen. Nach dem Gutachten der Sachverständigen L. hat der Kläger neben der Rippenfraktur lediglich ein „leichtes Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades ohne Folgeerkrankungen“ sowie psychisch zunächst eine „Akute Belastungsreaktion“ mit einer nachfolgenden „Anpassungsstörung“ erlitten, die bis längstens Ende März 2015 wieder abgeklungen war.

Ob die psychische Beeinträchtigung unfallbedingt über Ende März 2015 hinaus andauert, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, die dem Beweismaß des § 287 ZPO unterworfen ist. Wegen der psychischen Vorbelastung des Geschädigten gilt zunächst der Grundsatz, dass der Schädiger auch für eine psychische Fehlverarbeitung einzustehen hat, wenn eine hinreichende Gewissheit besteht, dass die psychisch bedingten Ausfälle ohne den Unfall nicht eingetreten wären. Eine unfallbedingte Mitverursachung reicht insoweit aus.

Die Zurechnung solcher Schäden scheitert nicht daran, dass der Verletzte infolge körperlicher oder seelischer Dispositionen besonders schadensanfällig ist, weil der Schädiger keinen Anspruch darauf hat, so gestellt zu werden, als habe er einen bis dahin Gesunden verletzt (OLG Schleswig, Urteil vom 10.01.2019, 7 U 74/13, SVR 2020, 24, 26).

Die Kausalität psychischer Beeinträchtigungen wegen psychischer Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens wird in drei Fallgruppen unterteilt, die im Grundsatz höchstrichterlich anerkannt sind.

Dies ist zum einen der Fall, wenn der Geschädigte den Unfall in einem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit lediglich zum Anlass nimmt, um den Schwierigkeiten und Belastungen des Erwerbslebens auszuweichen (sog. Begehrensneurose, vgl. BGH, Urteil vom 26.07.2022, VI ZR 58/21, NJW 2022, 3509, 3510). Hierfür hat das Landgericht keine durchgreifenden Anhaltspunkte gesehen, was von der Berufung der Beklagten auch nicht angegriffen wird.

Dasselbe gilt für die zweite Fallgruppe eines nur ganz leichten Unfalls (sog. Bagatellunfälle, vgl. BGH, Urteil vom 10.02.2015, VI ZR 8/14, NZV 2015, 281, 282).

Zu Recht hat das Landgericht aber die dritte Fallgruppe der sog. „überholenden Kausalität“ näher geprüft, allerdings im Ergebnis zu Unrecht abgelehnt.

Hiernach ist der Schaden einem Schädiger nicht (mehr) zuzurechnen, wenn infolge einer bereits vorhandenen Erkrankung oder Disposition auch ohne das schadenstiftende Ereignis der Schaden zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz oder teilweise eingetreten wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 31.05.2016, VI ZR 305/15, r+s 2016, 535, 536). Dem Schädiger obliegt die Beweislast für das Vorliegen einer Reserveursache, allerdings kommt auch ihm insoweit die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zugute, es genügt also eine überwiegende Wahrscheinlichkeit (vgl. OLG Schleswig, Urteil vom 10.01.2019, 7 U 74/13, SVR 2020, 24, 27; allgemein schadensrechtlich auch BGH, Urteil vom 28.05.2020, III ZR 58/19, NJW 2020, 3786, 3789).

Hier sieht es der Senat – insoweit anknüpfend an die medizinische Einschätzung sowohl der Sachverständigen L. als auch des Sachverständigen Dr. F. – als überwiegend wahrscheinlich an, dass der Kläger spätestens ab April 2015 auch ohne das Unfallereignis erwerbsunfähig geworden wäre. Beide Sachverständige kommen im Kern zu demselben Ergebnis. Der Sachverständige Dr. F. hat in psychischer Hinsicht eine akute Belastungssituation (F43.0) und eine hiermit im Kausalzusammenhang stehende Anpassungsstörung (F43.2) bis etwa Ende 2014 als durch den Unfall hervorgerufen angesehen. Die Chronifizierung der Gesundheitsstörung hat der Sachverständige Dr. F. demgegenüber als unfallunabhängige „Somatoforme Schmerzstörung mit körperlichen und psychischen Faktoren“ (nach F45.4 ICD10) angesehen, wobei das Ausmaß der körperlich begründbaren Schmerzen primär auf unfallunabhängig vorhandenen degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule beruht. Die bereits vor dem Unfall vorhandenen rezidivierenden depressiven Störungen und Verstimmungen hätten zu einer übersteigerten Schmerzwahrnehmung und zu einer verminderten Freisetzung von Endorphinen geführt, aus welcher wiederum eine verstärkte Schmerzinformationsaufnahme und -weiterleitung resultiere.

Im Kern dieselben Feststellungen hat die psychiatrische Sachverständige L. getroffen. Hiernach war der Kläger bereits vor dem Unfall erheblich psychisch vorbelastet (u. a. deutliche strukturelle Defizite im Persönlichkeitsaufbau mit narzisstischer Akzentuierung, die ihren Ursprung in frühester Kindheit und Jugend des Klägers haben; hinzu kamen besonders belastende Ereignisse wie z. B. 2010 der Tod der Ehefrau oder die Erkrankung einer der Söhne. Anfang 2011 erfolgte eine psychotherapeutische Behandlung in einer Tagesklinik wegen Depressionen). Unfallbedingt sei es zwar zu einer „Akuten Belastungsreaktion“ mit nachfolgender „Belastungsstörung“ beim Kläger gekommen, die aber relativ schnell wieder abgeklungen sei (längstens bis März 2015 mit der psychiatrischen Behandlung im Klinikum W.). Danach habe es aber unfallunabhängige, konkurrierende Umstände gegeben, die schließlich zu dem Dauerschaden einer „Chronischen Schmerzstörung mit körperlichen und psychischen Faktoren“ geführt hätten. Die Sachverständige hat insoweit folgende Umstände benannt:

– die Erkenntnis beim Kläger, nicht genug für das Alter angespart und keine ausreichende Selbstfürsorge gemacht, zu haben;

– die Frühgeburt von Zwillingsenkelkindern mit einhergehender erheblicher Bedrohung für das Leben der Säuglinge, was beim Kläger zu einer Verstärkung der Selbstwertstörung mit Zunahme von Ängsten geführt habe;

– die Wahrnehmung altersbedingter Einschränkungen und Verschleißbeschwerden sowie das Nachlassen seiner Kräfte (schon vor dem Unfall bestanden hochgradige degenerative Veränderungen der HWS).

Diese Umstände in Verbindung mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung hätten beim Kläger – auch ohne das Vorliegen eines Unfalls – spätestens ab April 2015 zu einer Erwerbsunfähigkeit geführt, zumal insbesondere die Aspekte des zunehmenden körperlichen Verschleißes sowie die fehlende finanzielle Altersvorsorge mit zunehmendem Alter naturgemäß immer stärker in den Vordergrund getreten sind (der Kläger erreichte im April 2015 das Alter von 63). Die Fragen der unzureichenden finanziellen Absicherung sind letztlich auch vom Kläger selbst im Termin vor dem Senat am 13.04.2021 zur Sprache gebracht worden. Die weitgehend übereinstimmenden Feststellungen und Bewertungen der Sachverständigen L. und Dr. F. stellen auch für den Senat eine nachvollziehbare Grundlage für die Entscheidung dar. Beide Sachverständige sind auf ihrem Gebiet sehr erfahren und haben ihre Aussagen erst nach jeweils ausführlicher Anamnese und Exploration des Klägers sowie Auswertung sämtlicher medizinischer Befunde getroffen.

Die anderslautenden Arztberichte des Klägers, die eine Unfallkausalität der psychischen Belastung annehmen, stellen dieses Beweisergebnis nicht in Frage. Für die behandelnden Ärzte stehen Diagnose und Therapie im Vordergrund, um dem Patienten Linderung zu verschaffen. Im Haftpflichtprozess kommt es hingegen auf die Unfallkausalität an, die durch medizinische Gerichtssachverständige ex post zu klären ist (vgl. BGH, Urteil vom 03.06.2008, VI ZR 235/07, NJW-RR 2008, 1380, 1381). Die Befundberichte der behandelnden Ärzte enthalten häufig lediglich subjektive Schilderungen ihrer Patienten zu Vorerkrankungen oder früheren Befunden, die objektiv nicht verifiziert oder abgeklärt worden sind. Sie können deshalb auch keine verlässliche Grundlage für die notwendigen Feststellungen des Gerichts zur Unfallursächlichkeit sein.

b) Schadensumfang

Aus einer Beschränkung der unfallbedingten Erwerbsunfähigkeit (nur) bis Ende März 2015 ergibt sich eine andere Berechnung der Höhe des Erwerbsschadens.

Bei selbständig Tätigen richtet sich die Höhe des Erwerbsschadens gemäß § 252 BGB danach, wie sich das von ihnen betriebene Unternehmen ohne den Unfall voraussichtlich entwickelt hätte. Bei der danach erforderlichen Prognose der hypothetischen Geschäftsentwicklung kommen dem Geschädigten die Darlegungs- und Beweiserleichterungen nach § 252 BGB, § 287 ZPO zugute (vgl. BGH, Urteil vom 03.03.1998, VI ZR 385/96, NZV 1998, 279). Als entgangen gilt der Gewinn, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte.

Das Landgericht hat hier einen Bruttomonatsverdienst vor dem Unfall von 4.842,11 € festgestellt (auf Basis des Steuerbescheides für das Jahr 2012). Da diese Feststellung von keiner der beiden Berufungen angegriffen worden ist, ist sie auch vom Senat als Ausgangspunkt der Schadensberechnung zugrunde zu legen (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Dies ergibt für den Zeitraum vom 23.08.2014 bis zum 31.03.2015 einen Bruttobetrag von 35.153,72 €. Hiervon ist zunächst ein Abschlag für ersparte monatliche Aufwendungen und für Krankheitsrisiken bei Selbständigen (der Kläger war schon vor dem Unfall fast 17 Monate ununterbrochen arbeitsunfähig) vorzunehmen. Wegen des vergleichsweise kurzen Zeitraums scheint der vom Landgericht insoweit angenommene Abzug von einem Drittel allerdings zu hoch bemessen. Der Senat hält im Schätzungswege (§ 287 ZPO) einen Abschlag von 10 % des Bruttoverdienstes für angemessen (= 3.515,37 €).

Vom den hiernach verbleibenden 31.638,35 € ist sodann das erhaltene Krankengeld in Abzug zu bringen. Dieses beträgt für 2014 10.101,24 € (vom 13.09.2014 bis 03.10.2014: 1.964,13 € und vom 04.10.2014 bis 31.12.2014: 8.137,11 €). Im Jahr 2015 hat der Kläger Krankengeld in Höhe von 33.630,40 € bezogen, hiervon ist ¼ (für drei von zwölf Monaten) in Abzug zu bringen, also 8.407,60 €.

Von den verbleibenden 13.132,01 € sind die ersparten Beiträge des Klägers für die freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung abzuziehen, die die Beklagte übernommen hat. Diese betragen gut 20 € pro Tag, was sich für den Betrachtungszeitraum (7 Monate und 8 Tage) auf den Wert von 4.360 € summiert.

Es verbleibt hiernach ein zu ersetzender Erwerbsschaden des Klägers in Höhe von 8.772,01 €.

Die Kürzungen beim Erwerbsschaden beruhen primär auf der vom Senat festgestellten zeitlichen Beschränkung der Unfallbedingtheit der psychischen Erkrankung und ferner auf dem anzurechnenden Krankengeld sowie den ersparten Versicherungsbeiträgen.

2) Immaterieller Schadenersatz

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von insgesamt 15.000 € aus §§ 7, 11, 18 StVG, § 115 VVG zu, von dem vorgerichtlich gezahlte 4.000 € in Abzug zu bringen sind. Soweit das Landgericht dem Kläger nur einen weiteren Schmerzensgeldanspruch von 6.000 € zugebilligt hat, hat die Berufung des Klägers zum Teil Erfolg.

Der Senat sieht einen Betrag von insgesamt 15.000 € als einen angemessenen, billigen Ausgleich für die festgestellten und unfallkausalen Verletzungen des Klägers an. Die Höhe eines dem Geschädigten zustehenden Schmerzensgeldes ist aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen (vgl. BGH, Urteil vom 10.07.2018, VI ZR 259/15 r+s 2018, 678). Das Schmerzensgeld hat hiernach einerseits die Funktion, dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich zu bieten für diejenigen Schäden, die nicht vermögensrechtlicher Art sind, andererseits die Genugtuungsfunktion, die dem Gedanken Rechnung tragen soll, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (vgl. BGH, Beschluss vom 11.05.2017, 2 StR 337/14, BeckRS 2017, 118215). Bei Verkehrsunfällen kommt der Ausgleichsfunktion die maßgebliche Bedeutung zu und die Genugtuungsfunktion tritt normalerweise in den Hintergrund (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 28.03.2019, 1 U 66/18, NJOZ 2020, 19, 21).

Zieht ein Unfallereignis tatsächlich unfallbedingte, nachhaltige psychische Störungen nach sich, steht dem Geschädigten zwar auch insoweit ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu. Bei der Schmerzensgeldbemessung wirkt sich jedoch eine spezielle Schadensanfälligkeit oder eine unangemessene Erlebnisverarbeitung des Geschädigten in der Regel anspruchskürzend aus (vgl. Halm/Staab, a.a.O., DAR 2009, 677, 679). Zur Legitimation einer Kürzung des Schmerzensgeldes für seelische Fehlreaktionen, die durch psychische Prädisposition mit verursacht worden sind, ist auf die „Billigkeit“ als Bemessungsfaktor abzustellen (vgl. BGH, Urteil vom 30.04.1996, VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341 – 353 = NJW 1996, 2425ff, 2427). Für die immateriellen Ansprüche des psychisch Geschädigten gilt deshalb die vorgenannte beschränkende Wirkung auch im Fall einer Fehlverarbeitung des Schadensgeschehens (vgl. OLG Schleswig, Urteil vom 10.01.2019, 7 U 74/13, juris Rn. 76 – rechtskräftig wegen Zurückweisung der NZB in 3/2021 durch BGH VI ZR 28/19; KG, Urteil vom 26.03.2015, 22 U 143/13, BeckRS 2015, 9940 Rn. 16).

So liegt der Fall auch hier. Der Kläger war bereits vor dem Unfallerheblich psychisch vorbelastet. Es wird auf die vorstehenden Ausführungen zum materiellen Schadensersatz verwiesen. Dies ist bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen, weshalb ein 15.000 € übersteigendes Schmerzensgeld im vorliegenden Fall nicht gerechtfertigt ist. Der vom Kläger angeführte Fall (OLG Hamm, Urteil vom 25.09.2002, 13 U 62/02, NZV 2003, 528) mit einer schweren dauerhaften Hirnschädigung und ohne vergleichbare Schadensveranlagung des Geschädigten ist völlig anders gelagert und daher als Vergleichsfall nicht geeignet.

Andererseits ist der bisher festgesetzte Betrag von 10.000 € zu gering bemessen und berücksichtigt nicht ausreichend, dass der Kläger mehrere, zum Teil auch längere Klinikaufenthalte durchleiden musste, die zumindest auch als aus dem Unfall herrührend anzusehen sind. Zudem fällt auch die verspätete Diagnose der Rippenfraktur, die bei der stationären Erstbehandlung im Universitätsklinikum E. übersehen worden war, schmerzensgelderhöhend ins Gewicht. Dieses unfallbedingte Erlebnis hat nicht nur zu einer längeren Dauer der frakturbedingten Schmerzen, sondern auch zu einer zusätzlichen psychischen Kränkung des bereits vorbelasteten Klägers geführt. Zudem ist das inzwischen ausgeheilte leichte Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades zu berücksichtigen.

c) Sowohl der materielle als auch der immaterielle Schadensersatzanspruch ist seit dem 11.12.2017 aus §§ 286, 288 Abs. 1 BGB zu verzinsen. Die Beklagte ist mit Schreiben vom 23.11.2017 zur Zahlung u. a. von Verdienstausfall und Schmerzensgeld bis zum 10.12.2017 aufgefordert worden und befindet sich nach Fristablauf im Umfang der berechtigten Forderung in Verzug. Die erstmalige Geltendmachung von Verzugszinsen auch für den immateriellen Schadensersatz im zweiten Rechtszug wird als sachdienlich zugelassen.

3) Feststellungsantrag

Das Feststellungsbegehren ist auf die Berufung der Beklagten abzuweisen. Der Kläger ist spätestens seit April 2015 nicht mehr unfallbedingt erkrankt. Künftige Schäden, die einen materiellen oder immateriellen Schadensersatzanspruch auslösen könnten, sind nicht zu erwarten. Es fehlt insoweit das erforderliche Feststellungsinteresse nach § 256 ZPO.

4) Vorgerichtliche Anwaltskosten

Einen Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten kann der Kläger gem. § 249 BGB geltend machen, allerdings nur bezogen auf den letztlich als begründet angesehenen Schadensersatzanspruch, also nach einem Gebührenwert von 19.772,01 € und nicht 350.000 €. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten errechnen sich demnach wie folgt:

Wert: 19.772,01 €

1,3 Geschäftsgebühr Nr. 2300 VV RVG (Rechtslage bis 31.12.2020): 964,60 €

Auslagen Nr. 7001/7002 RVG: 20,00 €

Umsatzsteuer (19 %) 187,07 €

Summe 1.171,67 €.

5) Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92, 97, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision sind, auch unter Berücksichtigung des nicht nachgelassenen Schriftsatzes vom 02.03.2024, der auch nicht die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gebietet, nicht gegeben.

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