Kollisionen beim Spurwechsel: Wer trägt die Schuld? Ein Gerichtsurteil klärt auf!
Das Landgericht Hamburg hat entschieden, dass die Klägerin, die während des Spurwechsels mit einem Lkw kollidierte, die volle Verantwortung für den Unfall trägt. Der Spurwechsel war noch nicht abgeschlossen, und es gab keinen Verstoß seitens des Lkw-Fahrers. Folglich wurde die Klage der Klägerin abgewiesen, und sie muss die Prozesskosten tragen.
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✔ Das Wichtigste in Kürze
Die zentralen Punkte aus dem Urteil:
- Vollständige Ablehnung der Klage: Klägerin trägt die volle Verantwortung für den Unfall.
- Spurwechsel nicht abgeschlossen: Zum Zeitpunkt der Kollision befand sich das Fahrzeug der Klägerin teilweise auf zwei Fahrstreifen.
- Kein Verstoß des Lkw-Fahrers: Das Gericht konnte keinen Verstoß gegen die Verkehrsvorschriften durch den Lkw-Fahrer feststellen.
- Beweislast: Die Klägerin konnte ihre Version des Unfallhergangs nicht ausreichend belegen.
- Anscheinsbeweis: Spricht gegen die Klägerin und ihre Sorgfaltspflicht beim Spurwechsel.
- Keine Anwendung des Reißverschlussverfahrens: In diesem Fall nicht relevant, da die Rechtsabbiegerspur fortgeführt wurde.
- Keine erhöhte Betriebsgefahr beim Lkw: Kein Einfluss auf den Unfall nachweisbar.
- Kostenentscheidung: Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits und hat keinen Anspruch auf Schadensersatz oder Nebenforderungen.
Übersicht
Spurwechsel im Straßenverkehr: Rechtliche Konsequenzen bei Unfällen
Im Straßenverkehr ist der Spurwechsel eine alltägliche, aber auch riskante Manöver. Besonders im Kontext von Verkehrsunfällen gewinnt das Thema der Spurwechslerhaftung eine entscheidende Bedeutung. In der rechtlichen Bewertung von Kollisionen beim Spurwechsel spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, die von der genauen Positionierung der Fahrzeuge bis hin zur Frage der Haftungsverteilung reichen.
Dieses komplexe und oft missverstandene Rechtsthema fordert eine genaue Betrachtung des Einzelfalls, insbesondere im Hinblick auf die Verpflichtungen der beteiligten Fahrer und die Anwendung relevanter Verkehrsvorschriften. Der folgende Inhalt beleuchtet ein konkretes Urteil zu diesem Thema und bietet tiefe Einblicke in die rechtlichen Überlegungen und Entscheidungen, die bei solchen Verkehrsunfällen eine Rolle spielen. Ein spannender Fall, der zeigt, wie wichtig die Beachtung der Straßenverkehrsordnung ist und welche Konsequenzen ein nicht ordnungsgemäßer Spurwechsel haben kann.
Spurwechslerhaftung im Fokus: Der Fall am LG Hamburg
Am Landgericht Hamburg wurde ein bemerkenswerter Fall verhandelt, der die Spurwechslerhaftung bei einer Kollision thematisiert. Im Kern des Falls steht ein Verkehrsunfall, der sich am 10. März 2021 auf der H. Chaussee ereignete. Beteiligt waren ein Pkw, geführt von der Klägerin, und ein Lkw, gesteuert von der Beklagten zu 1) und versichert bei der Beklagten zu 2). Die Klägerin, die von der A 23 kam, wechselte von der Rechtsabbiegerspur, die zurück zur Autobahn führt, auf die Geradeausspur, woraufhin es zur Kollision mit dem Lkw kam.
Der Unfallhergang: Klägerin fordert Schadensersatz
Die Klägerin machte verschiedene Schadenspositionen geltend, darunter Nettoreparaturkosten von 3.839,78 € und weitere Posten, die insgesamt auf eine Forderung von 5.422,92 € hinausliefen. Zusätzlich verlangte sie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 627,13 €. Ihre Forderung begründete sie damit, dass sie zum Zeitpunkt des Unfalls bereits auf der Geradeausspur gewesen sei und der Spurwechsel somit abgeschlossen gewesen wäre. Die Beklagten hingegen bestritten, dass sich das klägerische Fahrzeug vollständig in der Geradeausspur befunden hätte und argumentierten, die Klägerin sei im toten Winkel vor das Beklagtenfahrzeug gefahren.
Gerichtsurteil: Klägerin trägt volle Verantwortung
Das Gericht kam nach Anhörung beider Parteien und Auswertung eines unfallanalytischen Gutachtens zu dem Schluss, dass die Klägerin für den Unfall voll verantwortlich ist. Es wurde festgestellt, dass ihr Spurwechsel noch nicht abgeschlossen war, da sie sich zum Zeitpunkt der Kollision sowohl auf der Rechtsabbieger- als auch der Geradeausspur befand. Dies führte zu dem Anscheinsbeweis, dass sie gegen die Sorgfaltspflichten beim Fahrstreifenwechsel verstoßen hatte.
Haftungsverteilung und Rechtsfolgen
Die Klägerin haftet zu 100 % für den entstandenen Schaden, da ihr Verkehrsverstoß als besonders schwerwiegend bewertet wurde. Sie setzte sich in der unbegründeten Annahme, vorgelassen zu werden, in geringem Abstand vor das Beklagtenfahrzeug. Das Gericht wies darauf hin, dass selbst eine erhöhte Betriebsgefahr des Lkws hinter diesem schwerwiegenden Verstoß zurücktreten würde. Die Klage wurde abgewiesen, und die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Kein Anspruch auf Schadensersatz und Nebenforderungen wurde ihr zugesprochen.
In diesem Fall zeigt sich deutlich, wie wichtig die genaue Einhaltung der Straßenverkehrsordnung ist und welche Konsequenzen ein nicht ordnungsgemäßer Spurwechsel nach sich ziehen kann. Dieses Urteil des LG Hamburg dient als klares Beispiel für die strenge Handhabung der Spurwechslerhaftung und die Notwendigkeit, als Fahrzeugführer stets höchste Aufmerksamkeit und Sorgfalt walten zu lassen.
✔ Wichtige Begriffe kurz erklärt
Was bedeutet Spurwechslerhaftung im Straßenverkehrsrecht?
Die Spurwechslerhaftung im deutschen Straßenverkehrsrecht bezieht sich auf die Verantwortung eines Fahrzeugführers beim Wechseln der Fahrspur. Gemäß § 7 der Straßenverkehrsordnung (StVO) muss derjenige, der die Fahrspur wechselt, dies mit besonderer Vorsicht und unter Berücksichtigung des übrigen Verkehrs tun. Beim Spurwechsel sind erhöhte Sorgfaltspflichten zu beachten, da es sich um eine typische Gefahrensituation handelt, in der leicht Unfälle geschehen können.
Ein Fahrzeugführer, der einen Spurwechsel vornimmt, muss sicherstellen, dass er andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet. Dies beinhaltet, dass ausreichend Raum für den Spurwechsel vorhanden ist und dass der Spurwechsel ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer erfolgen kann. Sollte es während oder infolge eines Spurwechsels zu einem Unfall kommen, spricht der sogenannte Anscheinsbeweis oft dafür, dass der Spurwechselnde den Unfall verursacht hat, da von ihm eine erhöhte Sorgfalt erwartet wird.
Die Rechtsprechung hat hierzu klare Grundsätze entwickelt. So beginnt ein Spurwechsel rechtlich gesehen bereits beim Überfahren der Fahrbahnmarkierung und nicht erst, wenn das Fahrzeug vollständig die Spur gewechselt hat. Bei einem Unfall im Zusammenhang mit einem Spurwechsel wird häufig zunächst von einer Alleinhaftung des Spurwechselnden ausgegangen, es sei denn, dieser kann beweisen, dass er die erforderliche Sorgfalt beachtet hat oder dass der Unfall auch bei Beachtung der Sorgfaltspflichten nicht vermeidbar gewesen wäre.
Die konkreten Umstände des Einzelfalls sind jedoch immer entscheidend, und es kann auch zu einer Haftungsteilung kommen, wenn beispielsweise der andere Verkehrsteilnehmer ebenfalls einen Verkehrsverstoß begangen hat oder wenn besondere Situationen, wie etwa das Reißverschlussverfahren, zu berücksichtigen sind.
Das vorliegende Urteil
LG Hamburg – Az.: 337 O 50/22 – Urteil vom 03.03.2023
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn die Beklagten nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Beschluss
Der Streitwert wird auf bis 6.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von den Beklagten Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.
Am 10.3.2021 kam es in der H. Chaussee in H. zu einer in den Einzelheiten streitigen Kollision zwischen dem im Eigentum der Klägerin stehenden und von ihr gehaltenen und geführten Fahrzeug der Marke Ford Focus, amtliches Kennzeichen, und dem von der Beklagten zu 1) geführten und bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Lkw der Marke MAN TGS mit dem amtlichen Kennzeichen . Die Klägerin kam von der A 23 und fuhr von der Rechtsabbiegerspur, die wieder zur Autobahn führt, auf die Geradeausspur, wo es zur Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug kam.
Die Klägerin hatte ihren Schaden zunächst wie folgt beziffert:
– Nettoreparaturkosten: 3.839,78 € (vgl. Anlage K 2)
– Kosten Notreparatur: 570,00 € (vgl. Anlage K 2)
– Wertminderung: 200,00 € (vgl. Anlage K 2)
– Kostenpauschale: 20,00 €
= 4.629,78 €
– Sachverständigenkosten: 793,14 € (vgl. Anlage K 3)
Gesamt: 5.422,92 €
Daneben begehrt die Klägerin Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 627,13 €.
Mit Schriftsatz vom 10.8.2021 hat die Klägerin als Anlage K 4 eine Rechnung vorgelegt, aus der sich Notreparaturkosten in Höhe von 556,82 € ergeben.
Die Klägerin forderte die Beklagte zu 2) mit anwaltlichem Schreiben vom 18.3.2021 unter Fristsetzung bis zum 1.4.2021 zur Schadensregulierung auf. Dies lehnte die Beklagte zu 2) mit am 14.4.2021 bei der Klägerin eingegangenem Schreiben vom 9.4.2021 ab.
Die Klage wurde der Beklagten zu 1) am 2.7.2021 und der Beklagten zu 2) am 5.7.2021 zugestellt.
Die Klägerin behauptet, ihr Fahrzeug vor der Kollision bereits gerade in der Geradeausspur eingeordnet zu haben. Schriftsätzlich trägt die Klägerin vor, die Geradeausspur bereits eine Wegstrecke von ca. 40 bis 50 m befahren zu haben. Damit sei der Spurwechsel abgeschlossen gewesen; auf die Fahrbahnmarkierung komme es nicht an. Für die Beklagte zu 1) sei es erkennbar gewesen, dass sich die Klägerin auf der Geradeausspur einordnen würde. Die Beklagte zu 1) hätte der Klägerin einen Wechsel auf die Geradeausspur ermöglichen müssen. Die Klägerin sei aufgrund einer roten Ampel zum Stehen gekommen und das Beklagtenfahrzeug sei ihrem Fahrzeug mehrfach aufgefahren.
Die Klägerin beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, € 4.629,78 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.04.2021 an die Klägerin zu zahlen,
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, die Klägerin gegenüber dem Kfz-Sachverständigenbüro S. von der Verbindlichkeit aus der Honorarrechnung vom 16.03.2021 mit der Nummer in Höhe von € 793,14 freizuhalten,
3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen zu Händen der Prozessbevollmächtigten der Klägerin, € 627,13 nebst Zinsen in Höhe 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.
Die Beklagten bestreiten, dass sich das klägerische Fahrzeug im Moment der Kollision bereits vollständig in der Geradeausspur eingeordnet hatte und das Beklagtenfahrzeug mehrfach aufgefahren ist. Die Klägerin sei im toten Winkel vor das Beklagtenfahrzeug gefahren. Der Spurwechsel sei noch nicht abgeschlossen gewesen. Ferner bestreiten die Beklagten die Schadenshöhe. Die Nettoreparaturkosten würden sich nur auf 3.027,59 € belaufen und der Wiederbeschaffungsaufwand auf 3.189,00 € (vgl. im Einzelnen Anlage B 2). Die Kosten der Notreparatur seien nicht erstattungsfähig. Den Ersatz von Sachverständigenkosten und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten könne die Klägerin nicht verlangen.
Das Gericht hat die Klägerin und die Beklagte zu 1) persönlich angehört. Insofern wird auf das Terminsprotokoll vom 16.3.2022 Bezug genommen. Ferner hat das Gericht ein unfallanalytisches Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Phys. W. vom 7.11.2022 eingeholt.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Die Parteien haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erteilt.
Entscheidungsgründe
I.
Die zulässige Klage ist unbegründet.
1.
Der Klägerin steht gegen die Beklagten kein Anspruch auf Schadensersatz gemäß §§ 7, 17, 18 StVG, 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, 1 PflVG, 249 ff. BGB zu.
a)
Der Unfall ereignete sich gemäß § 7 Abs. 1 StVG bei Betrieb der unfallbeteiligten Fahrzeuge.
b)
Der Unfall war für die Beteiligten kein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG. Ein Ereignis ist unabwendbar, das bei Anwendung möglicher äußerster Sorgfalt nicht hätte abgewendet werden können. Dies erfordert geistesgegenwärtiges und sachgemäßes Handeln, das über den gewöhnlichen und persönlichen Maßstab hinausgeht. Die Rechtsprechung geht dann von einer Unabwendbarkeit aus, wenn ein sogenannter Idealfahrer den Verkehrsunfall nicht hätte verhindern können (vgl. Engel, Münchener Kommentar zum StVR, 1. Aufl. 2017, § 17 StVG Rn. 32).
c)
Damit richtet sich die Haftungsverteilung gemäß den §§ 17 Abs. 2, Abs. 1, 18 Abs. 3 StVG nach den Umständen, insbesondere danach, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht wurde. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (BGH, Urt. v. 8.3.2022 – VI ZR 1308/20).
aa)
Nach Durchführung der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Klägerin ein erheblicher Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO zur Last fällt.
Gemäß § 7 Abs. 5 S. 1 StVO erfordert jeder Fahrstreifenwechsel äußerste Sorgfalt. Nicht nur behinderndes oder gefährdendes Wechseln ist untersagt, sondern jeder Wechsel, bei dem fremde Gefährdung nicht ausgeschlossen ist (König, Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 7 StVO Rn. 17). Kommt es beim Spurwechsel zu einem Unfall, spricht der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verstoß des Spurwechslers gegen seine Sorgfaltspflicht aus § 7 Abs. 5 StVO. In der Regel haftet der Spurwechsler daher zu 100 % für den entstandenen Schaden aus einem Unfall mit dem Fahrzeug des Geradeausverkehrs, sofern sich der nachfolgende Verkehrsteilnehmer nicht nachgewiesenermaßen ebenfalls pflichtwidrig verhalten hat (vgl. Quarch, Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl. 2017, § 7 StVO Rn. 7).
Entgegen der Auffassung der Klägerin war ihr Fahrstreifenwechsel offenkundig noch nicht abgeschlossen, da sie nach ihren eigenen Angaben im Moment der Kollision sowohl auf der Rechtsabbieger- als auch der Geradeausspur gefahren ist (vgl. auch Anlage B 1). Den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Phys. W. zufolge kollidierten die Fahrzeuge mit einer Überdeckung von (nur) 35 % bezogen auf das Klägerfahrzeug. Insoweit spielt es keine Rolle, dass die Fahrzeuge nach den sachverständigen Feststellungen längsachsenparallel bzw. nur leicht gewinkelt miteinander kollidiert sind, sondern nur, dass das Klägerfahrzeug noch nicht vollständig, d.h. mit allen vier Rädern, auf der Geradeausspur eingeordnet war. Damit lässt sich eine klare Abgrenzung zwischen gefährlichem Fahrstreifenwechsel und Auffahrunfall vornehmen und auf die bei einem unmittelbar vor dem Aufprall abgeschlossenen Spurwechsel geltenden Anscheinsregeln kommt es nicht an (vgl. dazu Grabow, Dötsch/Koehl/Krenberger/Türpe, BeckOK, Straßenverkehrsrecht, 18. Ed., § 7 StVO Rn. 53 ff.; Burmann, Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl. 2022, § 4 StVO Rn. 24; König, Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 4 StVO Rn. 35 f.; BGH, Urt. v. 13.12.2011 − VI ZR 177/10).
Es bleibt damit bei einem gegen die Klägerin streitenden Anscheinsbeweis dafür, dass sie gegen die äußerste Sorgfaltspflicht aus § 7 Abs. 5 StVO verstoßen hat.
bb)
Ein Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1) lässt sich dagegen nicht feststellen.
(1)
Zunächst lässt sich kein Verstoß der Beklagten zu 1) gegen ihre Pflichten aus § 1 Abs. 2 StVO feststellen.
Es ist nicht erwiesen, dass die Klägerin vor der Kollision eine längere Strecke – ca. 40 bis 50 m (klägerischer Schriftsatz vom 10.8.2021) bzw. ein bis zwei Autolängen (Angaben mündliche Verhandlung) – vor dem Beklagtenfahrzeug gefahren und die Beklagte zu 1) mit dem für sie sichtbaren Klägerfahrzeug kollidiert ist. Zur Überzeugung des Gerichts steht insoweit nur fest, dass die Klägerin einen Spurwechsel vorgenommen hat und in kurzem Abstand vor das Beklagtenfahrzeug eingeschert ist.
Die Klägerin hat in ihrer Anhörung geschildert, bei stockendem Verkehr in eine ca. zwei Fahrzeuglängen breite Lücke zwischen dem Beklagtenfahrzeug und einem dritten Lkw gewechselt zu haben. Das Klägerfahrzeug habe sich zunächst jeweils ca. eine halbe Fahrzeuglänge vor dem Beklagtenfahrzeug bzw. hinter dem dritten Lkw befunden. Die Klägerin habe über eine Strecke von ca. ein bis zwei Fahrzeuglängen den Spurwechsel vorgenommen und ihr Fahrzeug gerade ausgerichtet, wobei sie über beide Spuren gefahren sei. Sodann habe sie verkehrsbedingt angehalten und es sei, obwohl sie noch gehupt hätte, zu zwei oder drei Fahrzeugberührungen gekommen.
Dagegen hat die Beklagte zu 1) angegeben, dass das klägerische Fahrzeug im toten Winkel vor das Beklagtenfahrzeug gewechselt habe, nachdem dieses gerade angerollt sei. Das Beklagtenfahrzeug habe zunächst in einem Abstand von ca. eineinhalb Metern hinter dem davor befindlichen Lkw gestanden. Letzterer sei dann angefahren, so dass sich eine Lücke von ca. zwei Metern ergeben habe. Das Beklagtenfahrzeug sei nach ca. ein bis zwei Sekunden ebenfalls angerollt. Nach weiteren ein bis zwei Sekunden habe die Beklagte zu 1) ein Ruckeln wahrgenommen, wobei sie zunächst von einer Reifenblockierung ausgegangen sei, so dass es zu mehreren Anstößen gekommen sein könne. Zwischen Anfahren und Kollision hätte kein ganzer Meter gelegen. Nach dem Ruckeln sei die Beklagte zu 1) noch ca. 20 oder 30 cm weit gerollt. Das Klägerfahrzeug sei vor dem Beklagtenfahrzeug und über die Spiegel nicht zu sehen gewesen und habe im Moment der Kollision eine stärkere Schrägstellung aufgewiesen, als auf dem Lichtbild der Anlage B 1 zu erkennen.
Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, einer der beiden Versionen den Vorzug zu geben, was zu einer Beweislastentscheidung zulasten der Klägerin führt. Insbesondere war die Schilderung der Beklagten zu 1) in sich schlüssig und glaubhaft. Die Beklagte zu 1) hat in ihrer mündlichen Anhörung einen glaubwürdigen Eindruck gemacht. Sie hat unter ersichtlicher Anstrengung ihrer Erinnerung versucht, das Unfallgeschehen zu rekonstruieren, ohne ihre eigene Beteiligung daran in den Hintergrund zu rücken. So hat sie etwa ohne Umschweife erklärt, dass die klägerische Behauptung mehrerer Anstöße zutreffen könne.
Auch das Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Phys. W. gelangt plausibel und überzeugend zu dem Ergebnis, dass die Beklagtenversion technisch möglich ist, d.h. dass die Klägerin unmittelbar vor der Kollision mit geringem Abstand vor dem Beklagtenfahrzeug eingeschert sein kann.
Dagegen weist die Unfallversion der Klägerin insofern Widersprüche auf, als die geschilderten Fahrstrecken versetzt vor dem Beklagtenfahrzeug erheblich voneinander abweichen. Die Diskrepanz der Angaben ca. 40 bis 50 m und ca. ein bis zwei Fahrzeuglängen ist auch im Rahmen der in Verkehrssachen üblichen Schätzungenauigkeit nicht nachvollziehbar. Ferner konnte die Klägerin keinen plausiblen Grund dafür benennen, warum sie sich nicht vollständig auf der Geradeausspur eingeordnet hat und über beide Spuren gefahren sei.
Da somit nicht auszuschließen ist, dass die Klägerin unmittelbar vor der Kollision plötzlich zum Spurwechsel angesetzt hat und in kurzer Distanz vor das gerade anrollende Beklagtenfahrzeug gefahren ist, steht nicht fest, dass es der Beklagten zu 1) möglich war, das Klägerfahrzeug rechtzeitig (vor sich oder über die Spiegel) wahrzunehmen, um noch unfallverhütend zu reagieren.
Insoweit führen auch die weiteren klägerischen Erwägungen, die Beklagte zu 1) hätte antizipieren können, dass die Klägerin zum Spurwechsel ansetzen und nicht weiter auf der Rechtsabbiegerspur fahren würde, zu keinem anderen Ergebnis. Selbst unter der Annahme, dass die Beklagte zu 1) das Klägerfahrzeug vor der Kollision neben sich wahrgenommen hätte, ist die Schlussfolgerung, die Klägerin würde auf die Geradeausspur wechseln, alles andere als zwingend, zumal die rechte Spur nicht endete, sondern als Rechtsabbiegerspur weitergeführt wurde. Dies gilt auch für den Fall, dass die Beklagte zu 1) überdies wahrgenommen hätte, dass die Klägerin gerade von der Autobahn abgefahren war. Zum anderen darf der Geradeausfahrende darauf vertrauen, dass ein in einem benachbarten Fahrstreifen Fahrender nicht unmittelbar vor ihm plötzlich in seine Spur einschert (vgl. Heß, a.a.O., § 7 StVO Rn. 22).
(2)
Ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO lässt sich auch nicht vor dem Hintergrund annehmen, dass es nach dem klägerischen Vortrag zu mehreren Anstößen gekommen sei.
Insoweit ist zunächst nach den Angaben der Klägerin offengeblieben, ob es sich um zwei oder drei Anstöße gehandelt habe. Auch lässt sich nicht feststellen, dass der wiederholte Anstoß durch eine – gegen den Widerstand des Klägerfahrzeugs – erneute oder verstärkte Betätigung des Gaspedals, i.e. einen bewussten Fahrvorgang der Beklagten zu 1) zustande gekommen ist. Denn hiergegen spricht ihre glaubhafte und dem Sachverständigen Dipl.-Phys. W. zufolge technisch mögliche Angabe, nach dem Ruckeln lediglich noch eine geringe Strecke von ca. 20 bis 30 cm zurückgelegt zu haben. Es spricht damit viel dafür, auch einen zweiten Anstoß auf die Anfahrbewegung des Beklagtenfahrzeugs zurückzuführen, wodurch das Klägerfahrzeug nach vorne geschoben wurde und in ein Ruckeln geraten ist.
(3)
Ferner konnte die Klägerin nach dem Vorstehenden auch keinen Verstoß der Beklagten zu 1) gegen die Pflichten aus § 7 Abs. 4 StVO nachweisen.
Zum einen dürfte das Reißverschlussverfahren im Unfallbereich keine Anwendung finden. Voraussetzung ist insoweit nämlich, dass ein Fahrstreifen endet oder durch ein Hindernis (Baustelle, parkende Fahrzeuge) unterbrochen wird (vgl. Heß, a.a.O., § 7 StVO Rn. 19a). Vorliegend wurde die rechte Spur aber als Rechtsabbiegerstreifen weitergeführt.
Ferner hat die Klägerin zwar geschildert, dass ein Fahrzeug vor ihr vor dem dritten Lkw auf die Geradeausspur gewechselt sei. Die Klägerin sei davon ausgegangen, dass das Reißverschlussverfahren gelte und ihr der Spurwechsel ermöglicht würde. Insoweit bleibt allerdings offen, auf welcher Grundlage die Klägerin, die sich offenkundig nicht vor dem Spurwechsel mit der Beklagten zu 1) etwa durch Blickkontakt abgestimmt hatte, dies angenommen hat.
Schließlich hat der auf dem durchgehenden Fahrstreifen Fahrende grundsätzlich Vortritt. Der Spurwechsler darf nicht darauf vertrauen, dass ihm der Spurwechsel ermöglicht wird. Auch im Reißverschlussverfahren gilt der Anscheinsbeweis gegen den Spurwechsler, wenn es beim Einfädeln zu einer Kollision kommt. Eine Mithaftung des Bevorrechtigten kommt nur in Betracht, wenn er die Gefahr einer Kollision auf sich zukommen sehen musste und unfallverhütend reagieren kann (vgl. zum Ganzen König, a.a.O., § 7 StVO Rn. 20). Dies lässt sich aber – wie gezeigt – nicht feststellen.
cc)
Nach dem Vorstehenden ist schließlich auch nicht von einer bauartbedingt erhöhten Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs auszugehen. Es steht zur Überzeugung des Gerichts insbesondere nicht fest, dass sich etwa Sichteinschränkungen der Beklagten zu 1) nach vorne rechts oder die erhöhte Masse des Beklagtenfahrzeugs konkret bei dem Unfall ausgewirkt haben. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der klägerischen Behauptung, dass es zu mehreren Anstößen gekommen sei.
dd)
In der Abwägung der festgestellten Verursachungsbeiträge – es verbleibt bei einem schuldhaften Verstoß der Klägerin gegen die äußersten Sorgfaltspflichten des § 7 Abs. 5 StVO – haftet die Klägerin zu 100 %. Der Verkehrsverstoß der Klägerin wiegt auch deswegen besonders schwer, da sie sich in der unbegründeten Annahme, sie werde vorgelassen, in relativ geringem Abstand vor das Beklagtenfahrzeug gesetzt hat.
Eine von dem Beklagtenfahrzeug ausgehende (einfache) Betriebsgefahr tritt dahinter vollständig zurück. Dies würde zur Auffassung des Gerichts angesichts der Erheblichkeit des Verkehrsverstoßes der Klägerin auch unter der – hier nicht vertretenen – Annahme gelten, dass die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs erhöht war (vgl. insoweit die beklagtenseits zitierten Entscheidungen OLG Celle, Urt. v. 20.5.2020 – 14 U 193/19; OLG Düsseldorf, Urt. v. 6.2.2018 – I-1 U 102/17).
2.
Mangels begründeter Hauptforderung steht der Klägerin auch kein Anspruch auf die begehrten Nebenforderungen (Verzinsung, außergerichtliche Rechtsanwaltskosten) zu.
II.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91, 708 Nr. 11, 711 ZPO.