Ein knapper Überholvorgang führt zu juristischen Verwicklungen
Ein schlichter Vorfall im Straßenverkehr, eine alltägliche Situation mit unangenehmen Konsequenzen: Eine Autofahrerin entscheidet sich, ein langsamer fahrendes Fahrzeug zu überholen. Das Problem? Ein Mangel an ausreichendem Seitenabstand und der daraus resultierende Verkehrsunfall. Der Zwischenfall ereignet sich auf einer eher schmalen, asphaltierten Straße ohne Mittelstreifen. Die Überholende, hinter dem Steuer eines Ford, schätzt offenbar die Geschwindigkeit des vorausfahrenden VW T5, der von einem anderen Zeugen geführt wird, falsch ein. Sie setzt den Blinker, beginnt das Überholmanöver, und plötzlich kommt es zur Kollision zwischen den beiden Fahrzeugen. Der Außenspiegel des VW T5 trifft den Dachholm des Ford, der Schaden ist angerichtet.
Direkt zum Urteil Az: 65 C 32/21 springen.
Übersicht
Konsequenzen eines riskanten Manövers
Die Folgen des Überholens ohne ausreichenden Seitenabstand sind gravierend. Der Ford wird beschädigt und es entstehen Reparaturkosten. Diese werden vom Versicherer der Fahrerin, der Klägerin, gedeckt. Darüber hinaus werden zusätzliche Kosten für Sachverständige geltend gemacht, abzüglich einer Selbstbeteiligung. All diese Faktoren addieren sich zu erheblichen Ausgaben für den Versicherer.
Ein Rechtsstreit entbrennt
Die Versicherung der Fahrerin entscheidet sich, auf Regress zu gehen. Sie fordert von der Beklagten, der Versicherung des Fahrers des VW T5, einen Anteil der durch den Unfall entstandenen Kosten zurück. Grundlage hierfür ist eine Haftungsquote von 60%, die der Klägerin zugesprochen wird.
Ausgang der juristischen Auseinandersetzung
Am Ende des Tages fällt das Urteil. Die Beklagte wird zur Zahlung von Schadensersatz sowie vorgerichtlichen Anwaltskosten verurteilt. Allerdings wird ein Teil der Klage abgewiesen. Die Kosten des Rechtsstreits werden zwischen Klägerin und Beklagter aufgeteilt. Es ist ein Urteil, das die Komplexität von Verkehrsunfällen und die daraus resultierenden rechtlichen Konsequenzen verdeutlicht.
Das vorliegende Urteil
AG Flensburg – Az.: 65 C 32/21 – Urteil vom 17.06.2021
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 379,14 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.11.2020 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten von 93,42 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin 4/5 und die Beklagte 1/5.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Beide Parteien können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckende vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 1.761,92 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin macht gegen die Beklagte restliche Regressansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 11.04.2019 nach einer Haftungsquote von 60% geltend.
Die Klägerin ist Fahrzeugversicherer des PKW Ford mit dem amtlichen Kennzeichen …, mit dem die Zeugin L. am 11.04.2019 gegen 12:30 Uhr die H. Straße zwischen H. und M. befuhr, eine Straße mit einer Fahrbahnbreite von ca. 4,75 m ohne Mittelstreifen. Vor ihr fuhr auf dem asphaltierten Teil der Fahrbahn mit einer Geschwindigkeit von etwa 70 km/h der Zeuge J. mit dem bei der Beklagten versicherten Fahrzeug VW T5 mit dem amtlichen Kennzeichen …, das etwa 2,20 m breit ist. Da die Zeugin L. deutlich schneller unterwegs war, entschloss sie sich, das Fahrzeug des Zeugen J. auf gerader Strecke zu überholen, als kein Gegenverkehr kam und kein Fahrzeug hinter ihr war. Nachdem die Zeugin L. den Blinker gesetzt und zum Überholen angesetzt hatte, kam es zur Kollision zwischen dem Außenspiegel des VW T5 und dem Dachholm des PKW Ford, als die beiden Fahrzeuge in etwa auf gleicher Höhe waren. Durch die Kollision wurde der von der Zeugin L. geführten PKW beschädigt. Der Zeuge J. hatte den PKW Ford zuvor nicht wahrgenommen und an der Unfallstelle aufgrund der geringen Fahrbahnbreite nicht mit einem Überholvorgang gerechnet.
An dem PKW Ford entstand ein Schaden in Höhe von 4.948 € brutto, den der Versicherungsnehmer reparieren ließ. Die Klägerin regulierte diesen Schaden sowie restliche Sachverständigenkosten von 537,41 € abzüglich einer Selbstbeteiligung von 300,- €, so dass sie aufgrund des Unfalls Aufwendungen von insgesamt 5.185,41 € hatte.
Mit Schreiben vom 04.09.2019 machte die Klägerin zunächst nur den regulierten Fahrzeugschaden von 4.648 € geltend und forderte von der Beklagten auf einer Haftungsquote von 60% einen Betrag von 2.668,80 € zurück. Die Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 24.09.2019, dass der auf sie entfallene Haftungsanteil nach ihrer Auffassung lediglich 30% betrage und zahlte an die Klägerin 1.349,33 €. Auf eine Aufforderung der Klägerin vom 13.10.2020, den Differenzbetrag binnen 14 Tagen zu zahlen, erwiderte die Beklagte mit Schreiben vom 19.11.2020, dass sie bei ihrer Haftungsbewertung bleibe und die angekündigte Klage abwarte. Mit anwaltlichem Schreiben vom 04.12.2020 forderte die Klägerin die Beklagte auf, auf der Grundlage einer Haftungsquote von 60% den Differenzbetrag von 1.761,92 € bis zum 17.12.2020 an die Klägerin zu zahlen.
Die Klägerin behauptet, dass der Zeuge J. sein Fahrzeug plötzlich nach links gezogen habe, als der PKW der Zeugin L. schon auf Höhe des VW T5 gewesen sei. Die Zeugin L. sei gezwungen gewesen, ihr Fahrzeug zur Vermeidung einer Kollision auf den Grünstreifen zu lenken. Dennoch habe sie eine Kollision der Fahrzeuge nicht vermeiden können. Bei einer Haftungsquote von 60% belaufe sich ihre Forderung einschließlich der Sachverständigenkosten auf 3.111,27 €, so dass abzüglich der Zahlung von 1.349,33 € eine Forderung von 1.761,92 € verbleibe.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.761,92 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19.11.2020 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 249,40 € zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie behauptet, dass es zur Kollision der beiden Fahrzeuge gekommen sei, weil die Zeugin L. während des Überholvorgangs einen zu geringen Seitenabstand zu dem vom Zeugen J. geführten VW T5 gehalten habe. Der Zeuge J. habe sich die ganze Zeit spurtreu in seiner Richtungsfahrbahn gehalten.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung von Zeugen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Ergebnis des Sitzungsprotokolls vom 18.05.2021 Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist nur teilweise begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte wegen des Verkehrsunfalls vom 11.04.2019 einen Anspruch auf weiteren Schadensersatz in Höhe von 379,14 € gemäß §§ 7, 17 StVG, 86 VVG.
Der streitgegenständliche Unfall, bei dem unstreitig der PKW mit dem amtlichen Kennzeichen, dessen Fahrzeugversicherer die Klägerin ist, beschädigt wurde, hat sich zweifellos im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG beim Betrieb des bei der Beklagten versicherten VW T5 ereignet. Höhere Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG liegt offensichtlich nicht vor.
Der Unfall war auch für keine der Parteien unabwendbar im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG. Unabwendbar ist ein Ereignis, das auch durch äußerste mögliche Sorgfalt, die insbesondere die Einhaltung der geltenden Verkehrsvorschriften beinhaltet, nicht abgewendet werden kann. Dies wird von keiner der Parteien geltend gemacht.
Die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie deren Umfang hängen damit nach § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die danach gebotene Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge ist aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, soweit sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (st. Rspr., zuletzt BGH, NJW 2012, 1953 mit Anm. Figgener, NJW 2012, 1955; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Auflage, § 17 StVG, Rn. 31).
Die nach Maßgabe der vorstehenden Grundsätze durchgeführte Abwägung führt vorliegend in Bezug auf die Unfallverursachung zu einer Verantwortlichkeit der Zeugin L. zu 2/3 und des Zeugen J. zu 1/3.
Zwar hat der Zeuge J. gegen die Grundregeln gemäß § 1 Abs. 2 StVO verstoßen, indem er nach seinen eigenen Angaben den rückwärtigen Verkehr nicht angemessen beobachtet und deshalb sehr spät bemerkt, dass sein Fahrzeug von der dem von der Zeugin L. geführten PKW überholt wurde. Der Klägerin ist es jedoch nicht gelungen, einen Verstoß des Zeugen J. gegen das Rechtsfahrgebot gemäß § 2 Abs. 1 StVO zu beweisen. Ein Beweis ist geführt, wenn dem Gericht ein Maß an Sicherheit vermittelt wird, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie gänzlich auszuschließen (§ 286 ZPO). Der Klägerin ist es nicht gelungen, dem Gericht dieses Maß an Sicherheit zu vermitteln. Zwar haben sowohl die Zeugin L. als auch ihr Sohn, der Zeuge J. B. L., bekundet, dass der Zeuge J. mit seinem VW T5 nach links gezogen sei, als sich der bei der Klägerin versicherte PKW während des Überholvorgangs etwa auf gleicher Höhe befunden habe. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gibt es keinen Anscheinsbeweis für die Richtigkeit einer Zeugenaussage, diese ist vielmehr stets positiv festzustellen. Eine solche Feststellung ist hier nicht möglich, wobei hier ausdrücklich festgestellt werden soll, dass das Gericht keineswegs von einer Falschaussage der beiden Zeugen ausgeht, sondern unterstellt, dass diese subjektiv die Wahrheit gesagt haben. Es ist aber zu berücksichtigen, dass es sich bei dem vorliegenden Verkehrsunfall um ein sehr dynamisches Geschehen gehandelt hat, dem eine Fahrsituation zugrunde lag, die häufig erlebt wird. Aufgrund der hier in einer Vielzahl vorhandenen Fehlerquellen bei der Wahrnehmung kann nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass eine Aussage objektiv richtig ist. Vorliegend haben die Zeugen ein Überholmanöver geschildert, dass unstreitig stattgefunden hat. Hinsichtlich der Linksbewegung des Fahrzeuges des Zeugen J. waren die Aussagen aber weder besonders detailreich noch ergaben sich sonstige Anhaltspunkte, die für eine objektive Richtigkeit sprechen. Darüber hinaus stehen die Angaben der Zeugen L. im Widerspruch zu der Aussage des Zeugen J.. Dieser hat bekundet, dass er mit seinem Fahrzeug auch während des Überholvorganges – wenn auch nicht an der Schnur gezogen – am rechten Fahrbahnrand gefahren sei. Im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Aussagen – auch unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Ablaufs – ist kein Grund ersichtlich, den Zeugen L. mehr Glauben zu schenken als dem Zeugen J.. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum von der Klägerin behaupteten Unfallhergang kam vorliegend nicht in Betracht, weil ein Sachverständiger mangels der erforderlichen Anknüpfungspunkte keinen Feststellungen dazu treffen kann, ob die Kollision der beiden Fahrzeuge noch auf dem Fahrstreifen des Zeugen J. oder schon auf der Gegenfahrbahn erfolgt ist.
Der Zeugin L. ist ein schuldhafter Verstoß gegen die Vorschrift des § 5 Abs. 4 S. 2 StVO vorzuwerfen. Danach ist beim Überholen ein ausreichender Seitenabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern einzuhalten.
Die Frage nach dem ausreichenden Seitenabstand richtet sich nach der Lage des Einzelfalls, insbesondere nach der Art der Fahrzeuge und der Geschwindigkeit des Überholenden, den Fahrbahnverhältnissen, dem Wetter und dem Verhalten des Eingeholten. In der Regel reicht 1 m Seitenabstand beim Überholen aus (KG Berlin, Beschluss vom 21.02.2007 – 12 U 124/06, NZV 2007, 626). Auch hier war ein Mindestseitenabstand von jedenfalls 1 m einzuhalten. Denn aufgrund seiner Größe ging von dem VW T5 des Zeugen J. eher eine gesteigerte Gefahr aus, welcher einer Reduktion des gebotenen Seitenabstands entgegensteht.
Den Mindestseitenabstand von 1 m hat die Zeugin L. nicht eingehalten.
Die Fahrbahn ist im Bereich der Unfallstelle unstreitig insgesamt ca. 4,75 m breit, allein die Breite des VW T5 beträgt ca. 2,40 m. Unter Berücksichtigung eines Seitenabstands des VW nach rechts und der Breite des von der Zeugin L. geführten PKW steht fest, dass diese im Rahmen des Überholvorgangs den erforderlichen Mindestabstand zum Überholten nicht eingehalten hat. Dies gilt umso mehr, als die Zeugin L. angegeben hat, dass sie zu Beginn des Überholvorgangs zwar am linken Fahrbahnrand gefahren sei, zum angrenzenden Grünstreifen aber noch etwas Platz gewesen sei.
Die durch das schuldhafte Verhalten der Zeugin L. erhöhte Betriebsgefahr wiegt schwer und führt zu einer Haftung der Klägerin zu 2/3.
Gemäß § 86 VVG geht ein Ersatzanspruch gegen einen Dritten auf den Versicherer über, soweit der Versicherer den Schaden ersetzt.
Vorliegend setzt sich der kongruente Fahrzeugschaden aus den Reparaturkosten von 4.948,- € den auf die Gutachterkosten erbrachten Leistungen von 537,41 € unter Abzug einer Selbstbeteiligung von 300 € zusammen und beträgt somit insgesamt 5.185,41 €. Unter Berücksichtigung der Haftungsquote von 1/3 belief sich der Anspruch der Klägerin auf 1.728,47 €, den die Beklagte durch ihn Höhe von 1.349,33 € erfüllt hat.
Die Zinsentscheidung folgt aus §§ 280, 286, 288 Abs. 1 BGB. Die Beklagte hat mit Schreiben vom 19.11.2020 ihre weitergehende Haftung endgültig abgelehnt. Ferner schuldet die Beklagte der Klägerin Ersatz der durch das Schreiben der Klägervertreter vom 04.12.2020 entstandenen Rechtsverfolgungskosten nach einem Streitwert von bis 500,- €.
Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 11, 711 ZPO.