AG Frankfurt, Az.: 30 C 2806/15 (87), Urteil vom 05.11.2015
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 600,– € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 26.03.2015 zu zahlen.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin macht gegen die beklagte Fluggesellschaft Ausgleichsansprüche nach der FluggastRVO geltend.
Die Klägerin buchte bei der Beklagten einen Flug von Frankfurt am Main nach Kuwait am 27.12.2014 von 12.00 Uhr bis 19.45 Uhr (Flugnummer KU 1076) und von Kuwait nach Thiruvananthapura (Indien) am 27.12.2014 von 21.10 Uhr bis zum 28.12.2014 um 4.45 Uhr (Flugnummer KU 0331).
Der erste Flug in Frankfurt startete jedoch erst um 16.30 Uhr, so dass die Klägerin ihren Anschlussflug in Kuwait nicht mehr erreichte und erst am 29.12.2014 in Thiruvananthapura ankam.
Die Entfernung von Frankfurt nach Thiruvananthapura beträgt mehr als 3.500km.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 10.03.2015 wurde die Beklagte zur Zahlung des Ausgleichsanspruchs bis zum 25.03.2015 aufgefordert.
Die Klägerin beantragt: Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger 600,00 € nebst 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz p.a. hieraus seit dem 26.03.2015 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte behauptet, die Verspätung sei darauf zurückzuführen, dass bereits der Start des Vorflugs von Genf nach Frankfurt am Main sich aufgrund des Enteisens in Genf und Warten auf die Zuteilung eines neuen Abflugslots um insgesamt eine Stunde und 47 Minuten verzögert habe und die Ankunft ebenfalls entsprechend verspätet erst um 12.07 Uhr erfolgt sei. Sodann sei es in Frankfurt wetterbedingt zu einer weiteren Verzögerung von einer Stunde und 54 Minuten gekommen, weil das Flugzeug zunächst habe enteist werden müssen. Dabei seien zwar die Türen des Fluggerätes bereits um 13.20 Uhr Ortszeit geschlossen worden, die Enteisung habe jedoch erst um 15.02 Uhr begonnen und sei um 15.37 Uhr abgeschlossen gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig.
Das Amtsgericht Frankfurt am Main ist wegen des Abflugortes des gegenständlichen Fluges als Gericht des Erfüllungsortes (§ 29 ZPO) örtlich zuständig (vgl. BGH Urteil vom 18.01.2011, Az. X ZR 71/10, zitiert nach juris).
Die Klage ist auch begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung einer Ausgleichsleistung in Höhe von 600,– € gemäß Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. c) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (im Folgenden: FluggastRVO) in entsprechender Anwendung.
Die Klägerin erreichte ihr Endziel Thiruvananthapura (Indien) entgegen der planmäßigen Ankunftszeit am 28.12.2014 um 4.45 Uhr erst am 29.12.2014 um 3.45 Uhr.
Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 19.11.2009 (in NJW 2010, 43) festgestellt, dass Art. 5, 6 und 7 der FluggastRVO dahingehend auszulegen sind, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichzustellen sind und somit den in Art. 7 der FluggastRVO vorgesehen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie einen Zeitverlust von mehr als drei Stunden erleiden. Dem schließt sich das Gericht an. Dabei ist die Entfernung Frankfurt am Main – Thiruvananthapura von mehr als 3.500 km zugrunde zu legen.
Die Voraussetzungen eines Anspruchs nach Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. c) der FluggastRVO liegen auch vor. Insbesondere ist die Verordnung anwendbar, wurde das Endziel mit einer Verspätung von mehr als drei Stunden erreicht und betrug die Entfernung mehr als 3.500 km.
Die Beklagte kann sich auch nicht nach Art. 5 Abs. 3 FluggastRVO, der ebenfalls entsprechend anzuwenden ist, entlasten.
Die Beklagte beruft sich darauf, dass die Verspätung auf den für die wetterbedingt erforderliche Enteisung erforderlichen Zeitaufwand einschließlich Wartezeit zurückgehe, der von ihr nicht habe beeinflusst werden könne. Dieser Vortrag ist jedoch nicht geeignet, außergewöhnliche Umstände i. S. d. Art. 5 Abs. 3 FluggastRVO darzutun, die die Verspätung verursacht haben und sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Diese Norm ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen (EuGH, Urteil vom 22.12.2008, Az. C-549/07). Außergewöhnliche Umstände sind nur solche, die nicht dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entsprechen, sondern außerhalb dessen liegen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist (BGH, Urteil vom 24.09.2013, Az. X ZR 160/12). Nach Auffassung des EuGH können Umstände dann außergewöhnlich im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der FluggastRVO sein, wenn diese nicht im Rahmen der normalen Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens aufgetreten sind und von diesem auch nicht beherrschbar war (EuGH, Urteil vom 22.12.2008, Az: C-549/07, Tz. 23; BGH Urteil vom 12.11.2009, Az. Xa ZR 76/07).
Die Beklagte hat hier eingewandt, dass sie keinerlei Einflussmöglichkeiten auf den Ablauf der Enteisung habe. Die Enteisungen würden – jedenfalls am Flughafen Frankfurt – durch die Firma N. vorgenommen. Tatsächlich habe das Fluggerät in Frankfurt vom Zeitpunkt des Schließens der Türen bis zum Beginn der Enteisung mehr als 1,5 Stunden warten müssen.
Das Gericht schließt sich jedoch der Auffassung an, dass die Enteisung zu dem Pflichtenkreis des Luftfahrtunternehmens zählt, der wiederum beinhaltet, das Fluggerät in einem technisch flugbereiten Zustand zu halten, um die Fluggäste zum vereinbarten Zeitpunkt zu befördern (so AG Frankfurt am Main, Urteil vom 15.05.2014, Az.: 29 C 3587/13 (44); AG Frankfurt am Main, Urteil vom 22.05.2015, Az. 29 C 286/15 (85)). Der Pflichtenkreis der Beklagten umfasst demnach nicht allein den Flugvorgang selbst, sondern erstreckt sich auf den Betrieb des Flugzeugs, die technische Funktionalität des Fluggeräts und muss damit auch alle Vorgänge umfassen, die notwendig sind, um gegenüber den Fluggästen den vertraglich geschuldeten Flug durchzuführen (vgl. Amtsgericht Frankfurt am Main Urteil vom 03.02.2010, Az. 29 C 2088/09). Zur technischen Funktionalität des Fluggeräts zählt auch im Winter dessen Eisfreiheit.
Das Amtsgericht Frankfurt hat in einem ähnlichem Fall überzeugend ausgeführt (Urteil vom 22.05.2015, Az. 29 C 286/15 (85)):
„Der Pflichtenkreis der Beklagten umfasst entgegen ihrer Auffassung nicht allein den Flugvorgang selbst. Der Pflichtenkreis der Beklagten erstreckt sich auf den Betrieb des Flugzeugs, die technische Funktionalität des Fluggeräts und muss damit auch alle Vorgänge umfassen, die notwendig sind, um gegenüber den Fluggästen den vertraglich geschuldeten Flug durchzuführen (vgl. AG Frankfurt a. M., Urt. v. 3.2.2010 – 29 C 2088/09, RRa 2010, 289). Zur technischen Funktionalität des Fluggeräts zählt auch im Winter dessen Eisfreiheit. Dass die Beklagte dabei durch die vorgenannte Richtlinie gehalten ist, die Firma N zu beauftragen und zudem auf deren Erfüllung keine Einwirkungsmöglichkeit hat, steht der grundsätzlichen Zuordnung dieser Aufgabe in den Pflichtenkreis der Beklagten nicht entgegen. Bei der Frage der Bestimmung des Pflichtenkreises der Beklagten können die Wertungen des § 278 BGB und der Frage der Erfüllungsgehilfen herangezogen werden. Wird der Flughafenbetreiber oder Drittfirmen im Rahmen eine Tätigkeit eingesetzt, die zur Erfüllung des vertraglichen Aufgaben- und Pflichtenkreises der Beklagten führt, so muss sich die Beklagte die Handlungen des Flughafenbetreibers, weiteren Firmen bzw. deren Angestellten zurechnen lassen (vgl. LG Köln, Urt. v. 9.4.2013 – 11 S 241/12, RRa 2014, 34). Dabei ist Erfüllungsgehilfe, wer nach den tatsächlichen Gegebenheiten des Falls mit dem Willen des Schuldners bei der Erfüllung einer diesem obliegenden Verbindlichkeit als seine Hilfsperson tätig wird (Palandt/Grüneberg, BGB [73. Aufl. 2014], § 278, Rn. 7). Dabei geht der BGH ausdrücklich davon aus, dass Erfüllungsgehilfe auch derjenige sein kann, der in seinem Verhalten keinem Weisungsrecht des Schuldners unterliegt (BGH, Urt. 23.9.2010 – ZR 246/09, NJW 2011, 139). Auch eine Monopolstellung hindert eine Qualifikation als Erfüllungsgehilfe nicht (BGH, NJW 2001, 396, (398)). Es ist ebenso in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Art der Verbindung zwischen Geschäftsherr und Erfüllungsgehilfe durchaus unterschiedlich sein kann. Zwischen beiden muss keinerlei vertragliche Beziehung bestehen, auch kann diese Beziehung öffentlich-rechtlich ausgestaltet sein (Palandt/Grüneberg, BGB [73. Aufl. 2014], § 278 Rn. 7, m. w. N.).“
Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich das Gericht vollumfänglich an. Es handelt sich dementsprechend bei der Enteisung und insbesondere der damit verbundenen Wartezeit nicht um einen außergewöhnlichen Umstand des Art. 5 Abs. 3 FluggastRVO, da die Enteisung grundsätzlich dem Pflichtenkreis der Fluggesellschaft zuzuordnen ist.
Die Beklagte hat nicht vorgetragen, dass die verzögerte Enteisung durch die Firma N. selbst auf einem außergewöhnlichen Umstand beruht. Das Fehlen einer ausreichenden Anzahl an Enteisungsanlagen stellt keinen solchen außergewöhnlichen Umstand dar.
Der zugesprochene Zinsanspruch beruht auf §§ 280 Abs. 1 und 2, 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit findet ihre Maßgabe in §§ 708 Nr. 11, 711, 709 S. 2 ZPO.
Die Berufung wird zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.