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Verkehrsunfall – Rückwärtsfahren – Ausweichmanöver

AG Kenzingen – Az.:  1 C 15/18 – Urteil vom 17.04.2018

1. Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger 2.128,24 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.01.2018 sowie vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten i.H.v. 353,29 € zu bezahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche weitere vorhersehbare materielle Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 12.10.2017, Tankstelle …‚ zu ersetzen, soweit diese nicht auf sonstige Dritte übergegangen sind.

3. Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Mit seiner Klage begehrt der Kläger von den Beklagten Ersatz seines Unfallschadens, Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für zukünftige materielle Schäden sowie Erstattung von vorprozessualen Rechtsverfolgungskosten aus einem Unfallereignis, das sich am 12.10.2017 gegen 9:30 Uhr auf dem Parkplatz der … Tankstelle in … zugetragen hat.

Am Unfalltage betankten der Kläger bzw. der Beklagte zu 1 ihre Fahrzeuge an einer Tanksäule der … Tankstelle in … Das klägerische Fahrzeug wurde rechts bzw. das Fahrzeug des Beklagten zu 1 links der Zapfsäule zum Betanken abgestellt.

Nach Abschluss des Tankvorgangs bestiegen der Kläger bzw. der Beklagte zu 1 nahezu zeitgleich wieder ihre Fahrzeuge in der Absicht, das Tankstellengelände zu verlassen. Zunächst rangierte der Kläger sein Fahrzeug einige Meter rückwärts und setzte sodann seine Fahrt in Vorwärtsrichtung fort, um in Richtung Ausfahrt der Tankstelle zu gelangen. In diesem Augenblick setzte der Beklagte zu 1 mit seinem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Fahrzeug zurück. Um einen Zusammenstoß mit dem rückwärts in seine Fahrlinie fahrenden Fahrzeug des Beklagten zu 1 zu vermeiden, bremste der bereits wieder vorwärts fahrende Kläger sein Fahrzeug ab und wich sodann rückwärtsfahrend dem klägerischen Fahrzeug aus. Der Kläger konnte zwar hierdurch eine Kollision mit dem Fahrzeug des Beklagten zu 1 verhindern. Bei der Rückwärtsfahrt stieß der Kläger jedoch mit seinem Fahrzeug gegen einen hinter seinem Fahrzeug befindlichen Metallpfosten. Der klägerische PKW wurde im Heckbereich beschädigt, wobei der Kläger den ihm entstandenen und der Höhe nach unstreitigen Schaden – unter Aufschlüsselung im Einzelnen – mit insgesamt 2.128,24 € beziffert. Bislang hat der Kläger seinen PKW noch nicht reparieren lassen. Insofern begehrt der Kläger mit seiner Klage die Feststellung, dass ihm ein Anspruch auf Ersatz des zukünftigen materiellen Schadens zusteht.

Vorgerichtlich wurde die Beklagte zu 2 unter Fristsetzung bis zum 19.01.2018 zur Regulierung des vorgenannten Schadens fruchtlos aufgefordert.

Der Kläger behauptet, er habe den Unfall nur durch ein rückwärtiges Ausweichen mit seinem Fahrzeug verhindern können. Ein Feststellungsbegehren für die gleichzeitig erhobene Feststellungsklage ergebe sich daraus, dass der Kläger bislang sein Fahrzeug noch nicht repariert habe und insofern ein weiterer Schaden in Form der Umsatzsteuer bzw. Mietwagenkosten/Nutzungsausfallschaden entstehen könne.

Der Kläger beantragt:

1. Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger 2.128,24 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.01.2018 sowie vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten i.H.v. 353,29 € zu bezahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche weitere vorhersehbare materielle Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 12.10.2017, Tankstelle …‚ zu ersetzen, soweit diese nicht auf sonstige Dritte übergegangen sind.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Der Beklagte ist der Auffassung, das Unfallereignis sei von dem Kläger alleine zu verantworten. Durch die überhastete Rückwärtsfahrt habe der Kläger den hinter ihm befindlichen Begrenzungspfosten übersehen. Überdies habe der Kläger mit dem Ausfahrvorgang begonnen, obwohl er das zurücksetzende Fahrzeug des Beklagten zu 1 hätte wahrnehmen können.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die bei Gericht eingereichten Schriftsätze nebst den diesen beigefügten Anlagen verwiesen. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Inaugenscheinnahme der bei den beigezogenen Bußgeldakten befindlichen Videoaufzeichnungen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und auch vollumfänglich begründet. Die Beklagten haften dem Kläger als Gesamtschuldner aus dem Unfallereignis vom 12.10.2017 in vollem Umfang auf Ersatz des unstreitigen Unfallschadens von 2.128,24 € (§§ 7 StVG i.V.m. § 115 VVG).

Der Kläger ist beim Betrieb des Fahrzeuges des Beklagten zu 1 geschädigt worden (§ 7 Abs. 1 StVG). Die Haftung des Fahrzeughalters setzt nicht zwingend voraus, dass es zu einer Fahrzeugberührung gekommen ist. Ein Schaden ist nämlich bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeuges im Sinne von § 7 StVG entstanden, wenn sich die von einem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben. Insoweit genügt für einen Ursachenzusammenhang, dass ein Fahrmanöver in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang die Reaktion eines anderen Verkehrsteilnehmers auslöst.

Verkehrsunfall – Rückwärtsfahren – Ausweichmanöver
(Symbolfoto: Von nikolaborovic/Shutterstock.com)

So verhält es sich hier. Nach Inaugenscheinnahme der vom Unfallgeschehen vorhandenen Videoaufzeichnungen steht für das erkennende Gericht unzweifelhaft fest, dass sich der Kläger berechtigterweise durch die Fahrweise des Beklagten zu 1 veranlasst sah, mit seinem bereits in Vorwärtsbewegung befindlichen Fahrzeug nach hinten auszuweichen, um letztlich eine Kollision mit dem rückwärtsfahrenden Fahrzeug des Beklagten zu 1 zu vermeiden. Danach steht fest, dass das Fahrmanöver des Beklagten zu 1 die Ursache für die Reaktion des Klägers gewesen ist. Entsprechend dem weiten Schutzzweck des § 7 Abs. 1 StVG steht somit ein Zurechnungszusammenhang zwischen dem Betrieb des Fahrzeuges des Beklagten zu 1 und dem Auffahren des Klägers auf den Metallpfosten außer Zweifel.

Dass der Unfall für den Erstbeklagten unabwendbar (§ 17 Abs. 3 StVG) gewesen ist, was eine Ersatzverpflichtung der Beklagten von vornherein ausgeschlossen hätte, haben die insoweit beweisbelasteten Beklagten weder substantiiert dargetan und ebenso auch nicht nachgewiesen. Im Gegenteil, dem Beklagten zu 1 ist nach den Grundsätzen über den Beweis des ersten Anscheins bereits ein Verstoß gegen die sich aus § 9 Abs. 5 StVO ergebenden Sorgfaltspflichten beim Rückwärtsfahren anzulasten.

Grundsätzlich ist vorliegend auch das Verhalten der beiden Fahrzeugführer nach den Vorschriften der StVO zu beurteilen. Öffentlicher Straßenverkehr findet nämlich nicht nur auf ihm gewidmeten Straßen, sondern auch dann statt, wenn Straßen oder Plätze mit Zustimmung oder Duldung des Verfügungsberechtigten tatsächlich allgemein benutzt werden. Das Gelände der …-Tankstelle in … steht einem unbestimmten Personenkreis offen, so dass auch dort – unabhängig von einer möglicherweise vorhandenen Widmung zum öffentlichen Verkehr – öffentlicher Straßenverkehr stattfindet. Die Regeln der StVO sind danach unmittelbar anzuwenden und von den Verkehrsteilnehmern auch zu beachten.

Nach der Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnungen ist es zur vollen Überzeugung des Gerichts als nachgewiesen anzusehen, dass bei Beginn des Rückwärtssetzens des Pkws des Erstbeklagten der klägerische PKW sich noch in einer gefahrlosen Entfernung befunden hat. Des Weiteren ist hinreichend auf den Videoaufzeichnungen feststellbar, dass der Erstbeklagte bereits bei Beginn seiner Rückwärtsfahrt den in seine Richtung vorwärtsfahrenden klägerischen PKW hätte erkennen können und müssen. Dem Erstbeklagten ist daher ein schuldhafter Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO anzulasten. Diese Verkehrsregelung verlangt nämlich von dem rückwärtsfahrenden Verkehrsteilnehmer – hier dem Erstbeklagten – ein Höchstmaß an Sorgfalt gegenüber anderen. Der rückwärtsfahrende Kraftfahrzeugführer muss nämlich beim Rückwärtsfahren ständig darauf achten, dass der Gefahrenraum hinter seinem Fahrzeug bei Beginn der Rückwärtsfahrt frei ist und auch von hinten sowie von der Seite her frei bleibt. Gegen diese Verpflichtung hat der Beklagte zu 1 verstoßen. Bei sorgfältiger Vorgehensweise, insbesondere bei ständiger Beobachtung des rückwärtigen Raumes, hätte der Erstbeklagte den klägerischen PKW spätestens nach Beginn seiner Rückwärtsfahrt erkennen können und müssen. Insoweit hätte dem Erstbeklagten auch hinreichend Zeit zur Verfügung gestanden, mittels Bremsung auf das Fahrzeug des Klägers zu reagieren.

Letztlich kann im Ergebnis dahingestellt bleiben, ob das Unfallgeschehen für den Kläger selbst ein unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG gewesen ist, was eine Mithaftung der Klägerseite von vornherein ausgeschlossen hätte. Eine Mithaftung des Klägers kommt nämlich selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das Unfallgeschehen für den Kläger nicht als unabwendbares Ereignis darstellt, im Ergebnis trotz alldem nicht in Betracht. Denn bei der nach § 17 Abs. 2 und 1 StVG vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge ist außer Zweifel, dass der Beklagten zu 1 durch ein zumindest fahrlässiges Fehlverhalten die maßgebliche Ausgangsursache für die Kollision des Klägers mit dem Metallpfosten gesetzt hat.

Unbegründet sind insoweit die Einwendungen der Beklagtenseite, die darauf abzielen, dem Kläger ein ursächliches Mitverschulden an dem Unfallgeschehen anzulasten.

Keinesfalls kann dem Kläger zum Vorwurf gemacht werden, bereits mit dem Ausfahrvorgang vom Tankstellengelände begonnen zu haben, obwohl er das rückwärtssetzende Fahrzeug des Beklagten zu 1 wahrgenommen habe. Anhand der Videoaufzeichnungen zeigt sich deutlich, dass das Fahrzeug des Beklagten zu 1 bei Beginn der Rückwärtsfahrt des Klägers noch geraume Zeit stand. Der Kläger war daher nicht gehalten, zunächst den Ausfahrvorgang des Beklagten zu 1 abzuwarten.

Insbesondere kann dem Kläger nicht zum Vorwurf gemacht werden, aus Unachtsamkeit gegen den hinter seinem Fahrzeug befindlichen Metallpfosten rückwärts aufgefahren zu sein. Nach ständiger Rechtsprechung stellt das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers kein Verschulden dar, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (BGH NJW 76, 1504).

An einer „offensichtlichen Fehlreaktion“ des Klägers fehlt es bereits vorliegend. Der Kläger hat sofort mittels einer Bremsung auf den in Richtung seines Fahrzeuges rückwärtsfahrenden PKW des Erstbeklagten reagiert und sein Fahrzeug zum Stillstand gebracht. Der Kläger brauchte weder mit einem plötzlichen Rückwärtsfahren des Beklagten zu 1 rechnen noch hatte er längere Zeit zu Überlegung zur Verfügung. Dem Kläger verblieben nur wenige Sekunden sich fahrtechnisch darauf zu besinnen, was fahrtechnisch geboten war, um auf den auf sein Fahrzeug zufahrenden PKW des Erstbeklagten zu reagieren. Wenn der Kläger sich in dieser für ihn überraschenden Gefahrensituation in einer ihm verbliebenen äußersten kurzen Zeitspanne entschließt, mit seinem PKW „nach hinten die Flucht zu ergreifen“, um eine Kollision mit dem rasch näher kommenden PKW des Erstbeklagten zu vermeiden, so ist hierin keine offensichtliche Fehlreaktion zu sehen. Dass es bei dieser Rückwärtsfahrt letztlich zur Kollision des klägerischen Pkws mit einem dort befindlichen Metallpfosten kam, ist einzig und allein der Rückwärtsfahrt des Erstbeklagten und der dadurch ausgelösten „Bedrohungssituation“ zuzuschreiben. Wenn der Kläger in einer solchen Situation objektiv falsch reagiert und in einer Art Verzweiflung das Auffahren des Fahrzeuges des Beklagten zu 1 durch ein eigenes Rückwärtsfahren zu verhindern versucht, so kann subjektiv nicht festgestellt werden, dass er zumindest fahrlässig (§ 276 BGB) gehandelt hat. Ein schuldhafter Verstoß des Klägers gegen § 9 Abs. 5 StVO bzw. § 1 Abs. 2 StVO lässt sich somit nicht begründen.

Dem Kläger ist daher nur die von seinem PKW ausgehende allgemeine Betriebsgefahr anzulasten, die jedoch gegenüber dem groben Verschulden des Erstbeklagten vernachlässigbar ist. Der Unfall ist vorrangig auf das schuldhafte Verhalten des Erstbeklagten zurückzuführen. Es ist daher angemessen und gerechtfertigt, den Beklagten die volle Haftung für den Unfall aufzubürden.

Für die außergerichtliche Tätigkeit seines Anwalts kann der Kläger darüber hinaus vorgerichtliche Anwaltskosten in unstreitiger Höhe von 353,29 € als Teil des erstattungsfähigen Schadens ersetzt verlangen.

Der gleichzeitig erhobene Feststellungsantrag ist auch zulässig und begründet.

Das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse als besondere Prozessvoraussetzung ist gegeben. Insoweit ist es ausreichend, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in der Zukunft noch weitere Schäden auftreten können. Dies ist vorliegend der Fall, da das streitbefangene Fahrzeug bislang nicht repariert wurde. Mithin ist zu erwarten, dass dem Kläger ein weiterer Schaden in Form von Mietwagenkosten bzw. Nutzungsausfall mit hoher Wahrscheinlichkeit zukünftig entstehen wird.

Die unstreitige Zinsentscheidung ergibt sich aus den §§ 280, 286, 288 I BGB, die prozessualen Nebenentscheidungen haben ihre Rechtsgrundlage in den §§ 91 und 709 ZPO.

 

 

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