LG Flensburg – Az.: 4 O 265/11 – Urteil vom 12.01.2012
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtlichen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der der Klägerin aus dem Verkehrsunfall vom 07. April 2011 in G. entstanden ist und noch entsteht soweit er nicht bereits auf Dritte übergegangen ist bzw. übergehen wird.
Die Beklagten tragen die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten dürfen die Zwangsvollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 07. April 2011 in der C. Straße in G. ereignet hat.
Die 58-jährige Klägerin, von Beruf selbstständige Physiotherapeutin, befuhr am Unfalltage mit ihrem herkömmlichen Fahrrad die C. Straße in G. in Richtung Zentrum auf dem Wege zu ihrer dort befindlichen Praxis. Die Klägerin trug keinen Fahrradhelm. Am rechten Fahrbahnrand parkte die Beklagte zu 1) mit ihrem Pkw, der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist. Die Beklagte zu 1) öffnete unmittelbar vor der sich nähernden Klägerin die Fahrertür ihres Fahrzeugs, sodass die Klägerin nicht mehr ausweichen konnte und gegen die sich öffnende Pkw-Tür fuhr. Die Klägerin stürzte zu Boden und zog sich schwere Schädel-Hirnverletzungen zu. Zunächst befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung in der Diako in Flensburg, anschließend im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus in Hamburg. Dort dauert die Behandlung in ambulanter Weise fort. Seit dem 08. August 2011 hat die Klägerin mit einem täglichen Arbeitseinsatz von 4 Stunden ihre Tätigkeit als Physiotherapeutin im Rahmen einer Belastungsprobe, vergleichbar dem Hamburger Modell, wieder aufgenommen.
Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte zu 1) habe wegen Missachtung ihrer Sorgfaltspflichten aus § 14 StVO den Unfall allein verursacht und verschuldet. Dass sie keinen Fahrradhelm getragen habe, begründe kein Mitverschulden gemäß § 254 BGB, da es eine allgemeine Helmpflicht nicht gäbe und sie ihr Fahrrad als gewöhnliches Fortbewegungsmittel genutzt habe.
Die Klägerin beantragt, festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtlichen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihr aus dem Verkehrsunfall vom 07.04.2011 in G. entstanden ist und noch entsteht und soweit er nicht bereits auf Dritte übergegangen ist bzw. übergehen wird.
Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.
Die Beklagten tragen vor, die Klägerin hätte ein Schädel-Hirntrauma mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erlitten, hätte sie einen geeigneten Fahrradhelm getragen. Es entspreche dem Alltagswissen, dass das Risiko von Kopfverletzungen beim Fahrradfahren durch das Tragen eines Helms vermindert werden könne. Gerade der „normale“ Radfahrer im alltäglichen Straßenverkehr sei den größten Risiken eines Unfalls ausgesetzt, sodass gerade er gehalten sei, einen Fahrradhelm zu tragen.
Wegen der Einzelheiten des Parteivortrags wird auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Feststellungsklage ist zulässig. Ein Feststellungsinteresse ist nicht wegen des Vorrangs der Leistungsklage zu verneinen, da der Klägerin die Bezifferung ihres Gesamtschadens noch nicht möglich ist. Die Klägerin befindet sich in fortdauernder ambulanter Behandlung im Unfallkrankenhaus in Hamburg und geht ihrer Tätigkeit als Physiotherapeutin nur teilschichtig nach. Unter anderem der Verdienstausfallschaden und das Schmerzensgeldbegehren lassen sich somit noch nicht abschließend beziffern.
Die Klage ist begründet. Die Beklagte zu 1) ist der Klägerin aus §§ 18, 7 StVG, die Beklagte zu 2) aus §§ 113, 115 VVG i.V.m. §§ 18, 7 StVG zum Schadensersatz verpflichtet. Beim Betriebe ihres Kraftfahrzeugs hat die Beklagte zu 1) den Körper und die Gesundheit der Klägerin verletzt. Zum Betriebe des Kraftfahrzeugs zählen auch die Phasen des ruhenden Verkehrs, insbesondere also das Ein- und Aussteigen. Die Verschuldensvermutung aus § 18 Satz 2 StVG haben die Beklagten nicht entkräftet.
Ein Mitverschulden gemäß § 254 BGB ist der Klägerin nicht anzulasten. In der Rechtsprechung und Literatur wird ausgehend von der Entscheidung des OLG Düsseldorf (DAR 2007, 704) ein differenziertes Bild zur Helmpflicht von Fahrradfahrern vertreten. Grundsätzlich wird ein Mitverschulden des ohne Helm fahrenden Radfahrers nicht angerechnet, nur für besonders gefährdete Radfahrer, insbesondere für Kinder und sportlich ambitioniert fahrende Rennradfahrer, wird ein Mitverschuldensvorwurf für berechtigt erachtet. Für Radfahrer jedoch, die ihr Fahrrad als gewöhnliches Fortbewegungsmittel ohne sportliche Ambitionen nutzen, wird die fehlende Benutzung eines Helms nicht als anspruchsminderndes Mitverschulden gewertet. Diese Differenzierungskriterien sind vom BGH in seiner Revisionsentscheidung zum Urteil des OLG Düsseldorf bestätigt worden (NJW-RR 2009, 239). Literatur und Rechtsprechung haben sich dieser Auffassung angeschlossen (Palandt-Grüneberg, § 254 BGB Rn. 20; Hentschel-König, § 21 a StVO, Rn. 24; OLG Saarbrücken NZV 2008, 202). Kritische Stimmen wenden sich gegen die Differenzierung zwischen Rennradfahrern und normalen Radfahrern, ziehen daraus jedoch die Konsequenz, dass ein Mitverschulden nicht nur für den normalen Radfahrer sondern auch für den Rennradfahrer zu verneinen sei (Kettler, NZV 2007, 603).
Die Kammer schließt sich dieser ganz herrschenden Meinung an. Die Argumente der Beklagten geben der Kammer keinen Anlass, von dieser Überzeugung abzuweichen. Dass der normale Radfahrer im Straßenverkehr ungleich größeren Risiken ausgesetzt sei, als etwa kleine Kinder, die auf dem Gehweg abseits des Straßenverkehrs fahren oder Radrennfahrer auf gesperrten Strecken, wird der Problematik nicht gerecht. Zum einen bewegen sich auch kleine Kinder, selbst wenn sie auf dem Gehweg fahren, im Straßenverkehr und werden den Risiken einer Kollision mit Kraftfahrzeugen insbesondere beim Überqueren von Grundstücksausfahrten oder Einmündungen unmittelbar ausgesetzt. Der sportlich ambitionierte Radrennfahrer wird von den vorgenannten Entscheidungen in den Konstellationen erfasst, in denen er am Straßenverkehr teilnimmt, da nur dann die Tatbestandsvoraussetzungen aus §§ 7, 18 StVG vorliegen. Es geht nicht um den Sonderfall einer Sportveranstaltung für Radrennfahrer auf Streckenabschnitten, die für den allgemeinen Fahrzeugverkehr gesperrt sind. Mithin verbleibt es bei der Differenzierung zwischen dem allgemeinen Radfahrer auf der einen Seite und den sportlich ambitionierten Rennradfahrern oder den kleinen Kindern auf der anderen Seite, wobei alle am allgemeinen Straßenverkehr teilnehmen. Der von dem Beklagten gezogene Erstrechtsschluss wird somit der Rechtsprechung nicht gerecht. Diese Differenzierung basiert gerade darauf, dass durch die umschriebenen Personengruppen ein gesteigertes Gefährdungspotenzial gesetzt wird und deshalb diesen besonderen Risiken und dem dadurch bedingten Ausmaß der Eigengefährdung durch die Obliegenheit des Tragens eines Fahrradhelms Rechnung getragen werden soll (OLG Düsseldorf a.a.O.).
Soweit die Beklagten darlegen, es entspreche dem Alltagswissen, dass dem Risiko von Kopfverletzungen beim Fahrradfahren durch das Tragen eines Helms begegnet werden könne, gibt auch das der Kammer keinen Anlass zur Korrektur seiner Auffassung. Diesbezüglich ist zunächst auf § 21 a Abs. 2 StVO hinzuweisen, der die Helmpflicht regelt. Danach ist während der Fahrt ein Schutzhelm zu tragen, wer mit einem Kraftrad mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von über 20 km/h fährt. Der Gesetzgeber hat somit für Radfahrer das Tragen von Schutzhelmen nicht gesetzlich vorgeschrieben, obwohl er die schadensvermeidende Wirkung von Schutzhelmen gesehen hat. Indem er die Benutzung eines Schutzhelms nur beim Führen von Krafträdern vorgeschrieben hat, ist eine gesetzliche Wertung hinsichtlich des Tragens von Schutzhelmen getroffen worden. Diese gesetzgeberische Wertung lässt sich nicht dadurch übergehen, dass § 254 BGB lediglich die Verletzung einer gegen sich selbst bestehenden Obliegenheit verlangt, also ein Verschulden gegen sich selbst, da dann mit dem Argument, die unterlassene Maßnahme wäre geeignet gewesen, den eingetretenen Schaden zu vermeiden oder jedenfalls zu vermindern, maximale Schutzmaßnahmen eingefordert werden könnten. Dieses Gebot ist mit den Maßstäben der praktischen Vernunft aber nicht zu erfüllen und überspannt den Inhalt einer Obliegenheitsverletzung (vergl. OLG Saarbrücken NZV 2008, 202). Der Verkehrsteilnehmer muss sich im ersten Zugriff auf das gesetzliche Regelungswerk verlassen können, dass er sich nämlich bei Einhaltung des durch die StVO gesteckten Rahmen nicht nur in einem den Rechtswidrigkeitsvorwurf ausschließenden Sinne rechtsneutral verhält, sondern im positiven Sinne verkehrsgerecht (vergl. OLG Saarbrücken a.a.O.). Zudem hat sich auch keine allgemeine Überzeugung gebildet, dass das Tragen von Schutzhelmen für Fahrradfahrer notwendig ist, sodass sich der Radfahrer im Regelfall ein Mitverschulden nicht entgegenhalten lassen muss (Kettler NZV 2007, 603). Dass das Tragen eines Schutzhelms das Risiko eines schweren Schädelhirntraumas verhindert kann, ist gleichfalls kein Argument, da in jedem Einzelfall das Mitverschulden kausal für die Schadensentstehung geworden sein muss, sodass im Einzelfall festzustellen ist, dass das Tragen eines Fahrradhelms den Eintritt der Verletzungen hätte verhindern können.
Die Klägerin hat ihr Fahrrad zur normalen Fortbewegung auf dem Wege zu ihrem Arbeitsplatz genutzt, also keineswegs in sportlich ambitionierter Weise eines Radrennfahrers, sodass sie einer besonderen Risikogruppe nicht zugehörig ist, sich also wegen des fehlenden Tragens eines Schutzhelms keinen Mitverschuldensvorwurf entgegenhalten lassen muss. Im Rahmen der Abwägung der sonstigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge tritt die Betriebsgefahr des Fahrrads der Klägerin vollständig hinter den Schuldvorwurf zurück, der der Beklagten zu 1) zu machen ist. Gemäß § 14 Abs. 1 StVO hatte sich die Beklagte zu 1) beim Aussteigen aus ihrem Kraftfahrzeug so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Beim Öffnen der Fahrradtür musste die Beklagte zu 1) somit den rückwärtigen Verkehrsraum beobachten, indem sie etwa in den Rückspiegel und den Außenspiegel schaute, nach hinten über die Schulter blickte oder auch die Fahrertür einen Spalt breit öffnete, um den rückwärtigen Verkehr zu beobachten. Ereignet sich ein Unfall in unmittelbarem Zusammenhang beim Aussteigen, so streitet bereits der Anscheinsbeweis für ein fahrlässiges Verhalten des Aussteigenden (OLG Saarbrücken a.a.O.). Die Beklagte zu 1) hat unmittelbar vor der herannahenden Klägerin die Fahrertür vollständig geöffnet, sodass die Klägerin gegen die sich öffnende Pkw-Tür fuhr und zu Boden stürzte. Damit hat die Beklagte zu 1) nachhaltig gegen ihre Sorgfaltsanforderungen aus § 14 Abs. 1 StVO verstoßen, die von ihr eine Verhaltensweise verlangten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Gegenüber ihrem sorgfaltswidrigen Verhalten tritt die Betriebsgefahr des Fahrrades der Klägerin vollständig zurück, sodass die Beklagte zu 1) die alleinige Verantwortlichkeit an diesem Verkehrsunfall trifft und der Klägerin kein Mitverschulden entgegengehalten werden kann.
Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 91, 708, 711 ZPO.