Verkehrsunfall mit Fahrradfahrer: Wer trägt die Schuld?
In der rechtlichen Bewertung von Verkehrsunfällen, insbesondere bei Kollisionen zwischen Fahrradfahrern und Fahrzeugen, spielen zahlreiche Faktoren eine entscheidende Rolle. Zentral steht dabei die Frage der Haftung und des Mitverschuldens. Die rechtliche Klärung solcher Unfälle erfordert eine detaillierte Betrachtung der Umstände, insbesondere der Verkehrssituation und des Verhaltens der beteiligten Verkehrsteilnehmer. Hierbei sind die Einhaltung und der mögliche Verstoß gegen Verkehrsregeln von großer Bedeutung.
Die Beurteilung, wer in welchem Maße für den Unfall und dessen Folgen verantwortlich ist, basiert auf dem Zusammenspiel von Verkehrsrecht, Haftungsregelungen und individuellem Verhalten der Beteiligten. Das Ergebnis dieser Bewertung bestimmt, inwieweit Schadensersatzansprüche und Schmerzensgeldforderungen berechtigt sind und welche rechtlichen Konsequenzen sich für die beteiligten Parteien ergeben.
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✔ Das Wichtigste in Kürze
Das Oberlandesgericht Saarbrücken hat in einem Verkehrsunfallfall zwischen einem Fahrradfahrer und einem Fahrzeug entschieden, dass beide Parteien eine Teilschuld tragen, wobei der Fahrradfahrer ein höheres Mitverschulden von 70 % hat.
Zentrale Punkte aus dem Urteil:
- Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils: Das Urteil des Landgerichts Saarbrücken wurde vom Oberlandesgericht aufgehoben, wobei die Berufung des Klägers teilweise Erfolg hatte.
- Mitverschulden des Klägers: Der Kläger trägt ein Mitverschulden von 70 %, da ihm ein Verstoß gegen § 10 StVO vorgeworfen wird.
- Mithaftung der Beklagten: Die Beklagten sind gesamtschuldnerisch zu 30 % haftbar, da auch ein Sorgfaltsverstoß der Erstbeklagten festgestellt wurde.
- Schadensersatzforderungen: Die Beklagten sind verpflichtet, 30 % der materiellen und immateriellen Schäden des Klägers zu ersetzen.
- Verkehrssituation und Verhaltensregeln: Die spezifische Verkehrssituation und das Verhalten der Verkehrsteilnehmer, insbesondere beim Übergang zwischen einem Gehweg und der Fahrbahn, waren entscheidend.
- Rechtliche Grundlagen: Die Anwendung von §§ 7, 18 StVG in Verbindung mit § 115 VVG sowie § 254 BGB waren maßgeblich für die Entscheidung.
- Zurückverweisung an das Landgericht: Die Sache wurde zur weiteren Verhandlung und Entscheidung über die Höhe der Schadensersatzansprüche und Kosten an das Landgericht zurückverwiesen.
- Keine Zulassung der Revision: Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, und eine Revision wurde nicht zugelassen.
Übersicht
Dynamik eines Verkehrsunfalls: Fahrradfahrer versus Fahrzeug
Am 1. November 2017 ereignete sich ein signifikanter Verkehrsunfall auf der B 423, der einen Fahrradfahrer und ein Fahrzeug betraf. Der Kläger, ein Fahrradfahrer, dessen rechtes Bein bis auf einen Stumpf von 18 cm amputiert ist, befuhr den Gehweg entlang der B 423. Dieser Weg war für Radfahrer durch entsprechende Verkehrszeichen freigegeben. Beim Versuch, die L 237 zu überqueren, kollidierte er mit dem Fahrzeug der Erstbeklagten, die gerade nach rechts in die L 237 einbog. Der Kläger erlitt eine dislozierte Trümmerfraktur des Radiusköpfchens am rechten Arm. Vorgerichtlich zahlte die Zweitbeklagte einen Betrag von 1.790 Euro, davon 900 Euro als Schmerzensgeld.
Rechtliche Komplexität im Fall des Verkehrsunfalls
Der Kläger erhob Klage auf weitere Schadensersatzansprüche und Schmerzensgeld, mit dem Argument, seine Geschwindigkeit vor dem Einmündungsbereich reduziert und sich ordnungsgemäß verhalten zu haben. Die Beklagten widersprachen der Klage, indem sie behaupteten, der Kläger sei in das abbiegende Fahrzeug gefahren. Das Landgericht Saarbrücken wies die Klage zunächst ab, unter der Begründung, dass der Kläger gegen § 10 der Straßenverkehrsordnung (StVO) verstoßen habe, während ein Verschulden der Erstbeklagten nicht nachgewiesen werden konnte.
Entscheidung des Oberlandesgerichts Saarbrücken
Das Oberlandesgericht Saarbrücken hob das Urteil des Landgerichts auf und erklärte die Beklagten zu 30 % mithaftend. Es bestätigte die grundsätzliche Haftung der Beklagten gemäß den §§ 7, 18 StVG in Verbindung mit § 115 VVG. Das Gericht stellte fest, dass ein Mitverschulden des Klägers von 70 % vorlag und dass die Beklagten verpflichtet sind, 30 % der materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen. Es wurde entschieden, dass die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung über die Höhe der Ansprüche an das Landgericht zurückverwiesen wird.
Grundlagen der gerichtlichen Entscheidung und Haftungsverteilung
In seiner Urteilsbegründung legte das Oberlandesgericht dar, dass der Kläger gegen § 10 StVO verstoßen habe, indem er vom Gehweg auf die Fahrbahn einfuhr, ohne die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Zudem konnte er sich nicht auf den Vorrang aus § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVO berufen, da der Gehweg an der Unfallstelle in die einmündende Straße verschwenkt wurde. Die Erstbeklagte verletzte ihrerseits § 1 Abs. 2 StVO, indem sie den Kläger nicht beobachtete und ihren Abbiegevorgang nicht anpasste. Diese Konstellation führte zu einer Haftungsverteilung von 70 % zu Lasten des Klägers und 30 % zu Lasten der Beklagten. Das Gericht betonte die Notwendigkeit einer sorgfältigen Abwägung der Umstände und die Bedeutung des Verstoßes gegen Verkehrsregeln in solchen Fällen.
Der Fall verdeutlicht die Komplexität der Rechtsprechung im Bereich des Verkehrsrechts und die Bedeutung einer genauen Analyse der Umstände eines jeden Unfalls. Es zeigt auch, wie wichtig es ist, dass alle Verkehrsteilnehmer die Verkehrsregeln beachten, um die Sicherheit auf den Straßen zu gewährleisten.
✔ Wichtige Begriffe kurz erklärt
Wie wirkt sich ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung (StVO), insbesondere gegen § 10 oder § 9 StVO, auf die Haftung aus?
Ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung (StVO), insbesondere gegen § 10 oder § 9 StVO, kann erhebliche Auswirkungen auf die Haftung bei einem Verkehrsunfall haben.
§ 10 StVO regelt das Einfahren und Anfahren im Straßenverkehr. Wer von einem Gehweg auf eine Fahrbahn einfahren will, muss sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Ein Verstoß gegen diese Regelung kann zu einer Haftungsteilung führen. In einem Fall, in dem ein 11-jähriger Radfahrer beim Verlassen des Gehwegs gegen § 10 StVO verstieß und der Unfallgegner gegen § 3 Abs. 2a StVO, wonach er im Verhältnis zu dem Radfahrer als besonders geschützte Person äußerste Sorgfalt an den Tag zu legen hatte, wurde eine Haftungsteilung von 50 zu 50 als sachgerecht angesehen.
§ 9 StVO befasst sich mit dem Abbiegen, Wenden und Rückwärtsfahren. Ein schuldhafter Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO wird im Wege des Anscheinsbeweises zu Lasten desjenigen vermutet, der im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall in ein Grundstück abgebogen ist. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die in § 9 Abs. 1 S. 4 StVO zugrunde gelegte doppelte Rückschaupflicht. Hier tritt die einfache Betriebsgefahr eines anderen unfallbeteiligten Fahrzeugs zurück.
Die genaue Haftungsverteilung hängt jedoch immer von den spezifischen Umständen des Einzelfalls ab. Es ist daher ratsam, bei einem Verkehrsunfall und einem möglichen Verstoß gegen die StVO rechtlichen Rat einzuholen.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Saarbrücken – Az.: 3 U 14/23 – Urteil vom 28.07.2023
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 5.8.2022 – 1 O 359/20 – unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels aufgehoben.
1. Unter Abweisung der Klage im Übrigen wird der Klageanspruch hinsichtlich der Klageanträge zu 1 und 3 dem Grunde nach zu 30 % und hinsichtlich des Klageantrags zu 2 unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Klägers von 70 % für gerechtfertigt erklärt.
2. Unter Abweisung der Klage im Übrigen wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 30 % der weiteren materiellen Schäden und die weiteren immateriellen Schäden unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils des Klägers von 70 % zu ersetzen, die aus dem Unfallereignis vom 1.11.2017, Einmündungsbereich B 423/L 237 resultieren, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung über die Höhe der Klageanträge zu 1 bis 3 und des Klageantrags zu 5 sowie über die Kosten, einschließlich derjenigen des Berufungsverfahrens, an das Landgericht Saarbrücken zurückverwiesen.
III. Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger macht gegen die Beklagten restliche Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 1.11.2017 auf der B 423 ereignet hat.
Der Kläger, dessen rechtes Bein bis auf einen restlichen Stumpf von 18 cm amputiert ist, befuhr mit seinem Fahrrad den parallel zur B 423 verlaufenden Gehweg aus Aßweiler kommend in Richtung Habkirchen. Dieser ist durch Verkehrszeichen 239 („Gehweg“) mit dem Zusatzzeichen 1022-10 („Radfahrer frei“) für Radverkehr freigegeben. Im Einmündungsbereich der B 423/L 237 verschwenkt der Gehweg nach rechts in die L 237 und wird einige Meter von der Einmündung entfernt mittels einer Querungshilfe über die L 237 geführt. Der Kläger fuhr von dem Gehweg in Geradeausfahrt in den Einmündungsbereich der B 423/L 237 ein, um die L 237 zu überqueren und seine Fahrt auf der B 423 fortzusetzen. Hierbei kam es zur Kollision mit dem in gleicher Fahrtrichtung fahrenden Beklagtenfahrzeug … (amtl. Kz.: …), als die Erstbeklagte nach rechts in die L 237 einbog. Der Kläger erlitt bei dem Unfall eine dislozierte Trümmerfraktur des Radiusköpfchens rechts. Die Zweitbeklagte zahlte vorgerichtlich einen Betrag von insgesamt 1.790,- € (hiervon 900,- € Schmerzensgeld).
Mit seiner Klage hat der Kläger die Beklagten gesamtschuldnerisch auf Zahlung von restlichen 2.530,17 € Schadensersatz (417,65 € Reparaturkosten + 17,- Unkostenpauschale + 408,30 € Fahrtkosten + 70,- € Krankenhauskosten + 22,41 € Medikamentenkosten + 129,28 € Zuzahlung Reha und Kosten RTW + 27,13 € Kosten Presseannonce Zeugensuche + 84,- € Fahrtkosten Ehefrau + 1.789,05 € Kosten für die Pflege durch die Ehefrau) sowie ein in das Ermessen der Gerichts gestelltes Schmerzensgeld von mindestens weiteren 2.100,- € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten in Anspruch genommen. Ferner hat er die Feststellung begehrt, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihm sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis zu ersetzen. Hierzu hat geltend gemacht, er habe seine Geschwindigkeit vor dem Einmündungsbereich auf maximal Schrittgeschwindigkeit reduziert, den Fahrzeugverkehr auf der L 237 und der B 423 beobachtet und sich vor dem Einfahren mittels Schulterblick nach dem Verkehr auf der B 423 vergewissert. Als er den Einmündungsbereich bereits fast überquert habe, sei das Beklagtenfahrzeug mit seinem Fahrrad im Bereich des hinteren Reifens kollidiert.
Die Beklagten sind der Klage entgegengetreten. Sie haben geltend gemacht, die Kollision habe sich im ersten Drittel des Einmündungsbereichs ereignet, wobei der Kläger in das einbiegende Beklagtenfahrzeug gefahren sei.
Das Landgericht, auf dessen tatsächlichen Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO ergänzend Bezug genommen wird, hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dem Kläger sei ein Verstoß gegen § 10 StVO vorzuwerfen. Ein Verschulden der Erstbeklagten gegen § 9 Abs. 1 StVO oder § 3 Abs. 2 a StVO sei demgegenüber nicht nachgewiesen. Die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs trete hinter das grobe Verschulden des Klägers vollständig zurück.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er seine Klage weiterverfolgt. Er wendet sich gegen den vom Landgericht auf seiner Seite angenommenen Verstoß gegen § 10 StVO und macht geltend, die Erstbeklagte habe ihm gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO den Vorrang einräumen müssen. Zudem habe das Landgericht zu Unrecht einen Verstoß der Erstbeklagten gegen § 3 Abs. 2 a StVO verneint. Die Beklagten verteidigen die erstinstanzliche Entscheidung.
II.
Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. In der Sache hat sie teilweise Erfolg. Anders als das Landgericht angenommen hat, trifft die Beklagten eine Mithaftung von 30 %. Auf dieser Grundlage ist über die Zahlungsanträge zu 1-3 durch Grundurteil und über den Feststellungsantrag durch Teilurteil zu entscheiden. Im Übrigen ist die Sache auf den Antrag des Klägers zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über die noch klärungsbedürftige Höhe der Zahlungsansprüche an das Landgericht zurückzuverweisen.
1. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Beklagten grundsätzlich gemäß §§ 7, 18 StVG i.V.m. § 115 VVG haften, da sich der Unfall bei dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs ereignet hat, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und die Erstbeklagte den Entlastungsbeweis (§ 18 Abs. 1 Satz 2 StVG) nicht geführt hat.
2. Ebenso zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass ein Mitverschulden des Klägers nur im Rahmen der § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB Berücksichtigung findet. Eine danach gebotene Abwägung setzt stets die Feststellung eines haftungsbegründenden Tatbestandes auf der Seite des Geschädigten voraus, wobei die für die Abwägung maßgebenden Umstände feststehen, d.h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen und für die Entstehung des Schadens ursächlich geworden sein müssen (vgl. BGH, Urteil vom 24. September 2013 – VI ZR 255/12 –, Rn. 7, juris). Im Einzelfall kann dies sogar zu einem Entfallen der Mithaftung aus Gefährdungshaftung führen, wenn die im Vordergrund stehende Schadensursache ein grob verkehrswidriges Verhalten des Geschädigten darstellt (vgl. BGH, Urteil vom 4. April 2023 – VI ZR 11/21 –, Rn. 9, juris).
3. Entgegen der Berufung hat das Landgericht mit Recht in die gebotene Abwägung einen unfallursächlichen Verstoß des Klägers gegen § 10 Satz 1 StVO eingestellt.
a) Nach dieser Vorschrift hat derjenige, der von anderen Straßenteilen oder über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einfahren oder vom Fahrbahnrand anfahren will, sich dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies gilt auch für denjenigen, der – wie hier der Kläger – vom Gehweg auf die Fahrbahn einfährt (vgl. OLG München, Urteil vom 16. Februar 2022 – 10 U 6245/20 –, Rn. 23, juris; KG Berlin, Urteil vom 4. November 2021 – 22 U 48/18 –, Rn. 42, juris; OLG Hamm, Urteil vom 2. März 2018 – 9 U 54/17 –, Rn. 8, juris; OLG Saarbrücken, Urteil vom 13. Februar 2014 – 4 U 59/13 –, juris, Rn. 27, zum Verlassen eines Radwegs). Anders als die Berufung meint, schützt § 10 StVO auch denjenigen, der – wie die Erstbeklagte – in den Einmündungsbereich einer Seitenstraße abbiegt. Insoweit soll die Vorschrift unterschiedslos die Gefährdung „anderer Verkehrsteilnehmer“ ausschließen, womit jede Person gemeint ist, die sich – wie hier die Erstbeklagte – selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt (BGH, Urteil vom 17. Januar 2023 – VI ZR 203/22 –, Rn. 33, juris; Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 231/17 –, Rn. 12, juris). Überdies gehört der Einbiegende – was die Berufung verkennt – sehr wohl zum von § 10 StVO in erster Linie geschützten fließenden Verkehr (vgl. BGH, Urteil vom 17. Januar 2023 aaO).
b) Der Kläger kann sich hier – entgegen der Berufung – auch nicht auf den Vorrang aus § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVO gegenüber der Erstbeklagten berufen. Zwar muss nach dieser Vorschrift, wer abbiegen will, Fahrräder auch durchfahren lassen, wenn diese auf oder neben der Fahrbahn in der gleichen Richtung fahren, dies auch dann, wenn Radfahrer – wie hier – einen neben der Fahrbahn gelegenen, für Radfahrer freigegebenen Gehweg nutzen (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Auflage, § 9 StVO Rn. 28). Dies gilt indes nicht, wenn der Geh- bzw. Fahrweg – wie an der Unfallstelle – vor bzw. an einer Kreuzung in die einmündende Straße „verschwenkt“ und erst einige Meter hinter dem Einmündungsbereich mittels einer Fußgänger-/Radwegfuhrt über die einmündende Straße fortgeführt wird (vgl. VG Freiburg NZV 2023, 144; Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 9 StVO (Stand: 06.12.2022), Rn. 28.1). Diese Art der Verkehrsführung ist ersichtlich darauf gerichtet, dem von der bevorrechtigten Straße – hier eine Bundesstraße mit schnellerem Verkehr – Abbiegenden zunächst ein Einfahren in die einmündende Straße zu ermöglichen und so zu vermeiden, dass die Abbiegenden noch auf der Bundesstraße halten müssten, um Verkehrsteilnehmern auf dem seitlich verlaufenden Geh- und Fahrweg beim Überqueren der einmündenden Straße den Vorrang einzuräumen. Eine solche Situation würde den fließenden Verkehr erheblich behindern und mit Blick auf die dort üblicherweise gefahrenen Geschwindigkeiten mit einer Gefährdung der übrigen Verkehrsteilnehmer auf der Bundesstraße einhergehen. Deshalb wäre die angeordnete Verschwenkung des Geh- und Fahrwegs sinnentleert, wenn der Vorrang des § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVO gleichwohl im Einmündungsbereich fortgälte.
Anders als die Berufung meint, lässt auch die vorhandene Abmarkierung mittels Leitlinien auf der Bundesstraße im Bereich der Einmündung nicht darauf schließen, dass Radverkehr an dieser Stelle über die Kreuzung geführt wird. Die Leitlinien dienen allein der Abgrenzung der einmündenden Straße, während der Geh- und Radweg in die Einmündung verschwenkt wird. Auch ein Schutzstreifen für den Radverkehr, der auf der Fahrbahn mit dem Sinnbild „Radverkehr“ zu kennzeichnen wäre (Erläuterung zu Zeichen 340 der Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO), wird hierdurch nicht eröffnet. Die Erstbeklagte traf daher weder die besondere Rücksichts- und Wartepflicht des § 9 Abs. 3 Satz 3 StVO gegenüber Fußgängern (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 19. September 2005 – 14 W 32/05 –, Rn. 8, juris), noch kam dem Kläger gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVO der Vorrang zu, wenn er die L 237 außerhalb der Fußgänger-/Radwegefurt überquerte.
c) Für einen schuldhaften Verstoß des Klägers gegen § 10 Satz 1 StVO streitet ein Anscheinsbeweis. Dies gilt stets dann, wenn es – wie hier – in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren zum Zusammenstoß mit einem anderen Verkehrsteilnehmer gekommen ist (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 13. August 2020 – 4 U 6/20 –, Rn. 21, juris; Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 10 StVO (Stand: 02.12.2022), Rn. 72 m.w.N.). Umstände, die den Anscheinsbeweis erschüttern vermochten, sind nicht dargetan und auch nicht ersichtlich.
4. Soweit das Landgericht indes auf Beklagtenseite lediglich die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs und nicht einen unfallursächlichen Sorgfaltsverstoß der Erstbeklagten berücksichtigt hat, wendet sich die Berufung hiergegen im Ergebnis mit Erfolg.
a) Zwar liegt, wie gezeigt, ein Verstoß der Erstbeklagten gegen § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StVO nicht vor. Die Erstbeklagte hat auch nicht nachweislich gegen § 3 Abs. 2a StVO verstoßen. Nach dieser Vorschrift muss sich ein Fahrzeugführer gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies setzt allerdings voraus, dass der Fahrzeugführer die schutzbedürftigen Personen erkennen kann und deren Verhalten oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer Gefährdung führen können (vgl. BGH, Urteil vom 10. Oktober 2000 – VI ZR 268/99 –, Rn. 7, juris; Urteil vom 1. Juli 1997 – VI ZR 205/96 –, Rn. 10, juris; BGH, Urteil vom 19. April 1994 – VI ZR 219/93 –, Rn. 12, juris; Geigel/Freymann, Der Haftpflichtprozess, 28. Aufl., Kap. 27 Rn. 120 mwN.). Ob der Kläger ob seines Alters bzw. seiner Behinderung zu den schutzbedürftigen Personen i.S.d. § 3 Abs. 2a StVO zählt, kann hier dahinstehen. Jedenfalls sind Auffälligkeiten im Verhalten oder der konkreten Verkehrssituation, die eine besondere Schutzbedürftigkeit des Klägers bzw. eine besondere Gefährdung begründen könnten, nicht ersichtlich. Der Kläger war bereits nach seiner eigenen Schilderung ein erfahrener Radfahrer (Bl. 88 GA), der offensichtlich trotz seiner Beinamputation sicher auf dem Fahrrad fuhr. Er hatte zudem in der Annäherung an den Einmündungsbereich seine Fahrgeschwindigkeit bis auf ca. 5 km/h verringert, so dass nicht zu befürchten war, er könne infolge zu hoher Geschwindigkeit nicht dem abschwenkenden Weg folgen oder vor dem Einfahren auf die Fahrbahn anhalten.
c) Allerdings trifft die Erstbeklagte hier ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO. Ausgehend von ihrer Verpflichtung, die gesamte Straßenfläche vor sich zu beobachten (vgl. BGH, Urteil vom 4. April 2023 – VI ZR 11/21 –, Rn. 11, juris), was auch das Gelände neben der Fahrbahn beinhaltet (vgl. BGH, Urteil vom 24. Februar 1987 – VI ZR 19/86 –, Rn. 18, juris), hätte sie den in der Annäherung an die Einmündung nach der Bekundung der Zeugin W. auf gleicher Höhe mit dem Beklagtenfahrzeug fahrenden Radfahrer beobachten und sich vor Einleitung ihres Abbiegevorgangs vergewissern müssen, dass der Kläger tatsächlich dem Gehweg folgt bzw. anhält und ihr Vorrecht beachtet. Insoweit war der Vertrauensgrundsatz in das verkehrsgerechte Verhalten des neben ihr fahrenden Radfahrers für die Erstbeklagte eingeschränkt. Schon mit Blick auf die durch die Verschwenkung entstehende Verlängerung der Fahrtstrecke liegt es nicht außerhalb der Lebenserfahrung, dass ein Fahrradfahrer den direkten Übergang wählt, um abzukürzen. Jedenfalls hätte die Beklagte zu 1) bei der langsamen Abbiegefahrt den ebenfalls langsam neben ihr fahrenden Radfahrer beobachten müssen, um bei dem ersten Anzeichen eines Verkehrsverstoßes anhalten zu können. Dem ist sie nicht nachgekommen, da sie den unstreitig gut erkennbaren Kläger nach eigener Schilderung vor der Kollision überhaupt nicht gesehen hat. Der Sorgfaltsverstoß der Erstbeklagten hat sich auch unfallursächlich ausgewirkt, da kein vernünftiger Zweifel besteht, dass die Erstbeklagte bei gehöriger Aufmerksamkeit rechtzeitig hätte reagieren und die Kollision durch Zurückstellen des Abbiegevorgangs vermeiden können.
5. Bei der Haftungsabwägung überwiegt der Verstoß des Klägers denjenigen der Erstbeklagten. Der Verstoß gegen § 10 StVO wiegt grundsätzlich schwer und kann im Einzelfall die nicht erhöhte Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs vollständig zurücktreten lassen (vgl. OLG München, Urteil vom 25. November 2020 – 10 U 2847/20 –, Rn. 30, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 10. April 2018 – 7 U 5/18 –, Rn. 57, juris; OLG Saarbrücken, Urteil vom 13. Februar 2014 – 4 U 59/13 –, Rn. 45, juris). Nach Auffassung des Senats ist unter Berücksichtigung der durch den Sorgfaltsverstoß der Erstbeklagten erhöhten Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs eine Haftungsverteilung von 70 % zu 30 % zu Lasten des Klägers angemessen.
6. Auf dieser Grundlage ist durch Grundurteil festzustellen, dass dem Grunde nach die Klageanträge zu 1 und 3 zu 30 % und der Klageantrag zu 2 unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Klägers von 70 % gerechtfertigt sind. Einem Grundurteil betreffend den Schmerzensgeldanspruch steht dabei nicht entgegen, dass der Kläger die Höhe des Schmerzensgelds in das Ermessen des Gerichts gestellt hat (vgl. BGH, Urteil vom 28. März 2006 – VI ZR 50/05 –, Rn. 10, juris). Über den mit dem Klageantrag zu 4. verfolgten Feststellungsantrag kann ein Grundurteil nicht ergehen (vgl. BGH, Urteil vom 22. Juli 2009 – XII ZR 77/06 –, BGHZ 182, 116-140, Rn. 10; Urteil vom 27. Januar 2000 – IX ZR 45/98 –, Rn. 16, juris). Über diesen ist durch Teil-Endurteil zu entscheiden.
7. Im Übrigen ist der Rechtsstreit auf den Hilfsantrag des Klägers in Ausübung des eröffneten Ermessens hinsichtlich der Höhe der mit den Anträgen zu Ziffern 1, 2 und 3 geltend gemachten Schadensersatz- und Schmerzensgeld zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO), da der Rechtsstreit zur Anspruchshöhe nicht entscheidungsreif ist und sich die Entscheidungsreife auch nicht mit zumutbarem Aufwand herbeiführen lässt. Zurückzuverweisen ist auch der Antrag zu Ziffer 5. betreffend die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten, für deren Erstattungsfähigkeit die Höhe der berechtigten Forderungen maßgeblich ist (vgl. BGH, Urteil vom 9. Januar 2018 – VI ZR 82/17 –, Rn. 10, juris).
III.
Die Kostenentscheidung, auch hinsichtlich der Kosten des Berufungsverfahrens, ist dem Landgericht vorzubehalten. Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und keine Veranlassung gibt, eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts sowie zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung herbeizuführen (§ 543 Abs. 2 ZPO).