Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerinnen jeweils zur Hälfte.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Klägerinnen begehren aus übergegangenem Recht (§ 116 SGB X) vornehmlich den Ersatz von Behandlungskosten, die im Zusammenhang mit der Verletzung ihrer Versicherten Frau M. bei einem Unfallereignis stehen, welches sich am 25.06.2019 gegen 22:45 Uhr auf der L.-straße in T. zugetragen hat.
Der Beklagte zu 1) befuhr am 25.06.2019 mit seinem Motorrad, dessen Halter er ist, die L.-straße in Richtung X.. Die Beklagte zu 2) war zum Unfallzeitpunkt Haftpflichtversicherer des Motorrades. Hinter dem Beklagten zu 1) fuhr die Zeugin Y. in einem PKW. In dem Fahrzeug befand sich zudem der Zeuge G.. Vor dem Beklagten zu 1) fuhr ein weiterer roter PKW, zu dem nichts Näheres bekannt ist.
Zu diesem PKW hielt der Beklagte zu 1) einen Abstand von 5 Metern ein. An der Einmündung zur D.-straße verlangsamte das vorausfahrende rote Fahrzeug seine Fahrt, betätigte den rechten Blinker und orientierte sich nach rechts, um in die D.-straße zu fahren.
Unter im Einzelnen zwischen den Parteien streitigen Umständen umfuhr der Beklagte zu 1) das nach rechts abbiegende Fahrzeug. Derweil trat die Geschädigte auf der anderen Seite der Einmünde auf die O.-straße, um diese zu überqueren. Einzelheiten des Überquerungsvorgangs in Korrelation mit dem Umfahren des abbiegenden Fahrzeugs stehen zwischen den Parteien ebenfalls in Streit.
Obwohl der Beklagte zu 1) noch eine Gefahrenbremsung einleitete, kollidierte er mit der Geschädigten, die zu diesem Zeitpunkt etwa 1,5-2 Meter über die Straße geschritten war. In welchem Umfang die Geschädigte Verletzung davongetragen hat und welche Kosten für Behandlung und Pflege angefallen sind, ist zwischen den Parteien wiederum streitig.
Unter dem 23.07.2019 (Anl. K2 – Bl. 15 d. A.) erstattete der E. ein „Kurzgutachten Pflege SGB XI“, das zu der vorläufigen Empfehlung gelangte, dass bei der Geschädigten „mindestens Pflegegrad 2“ vorliege. Für weitere Einzelheiten, u.a. betreffend die der Einschätzung zugrundeliegenden Diagnosen, wird auf die genannte Anlage Bezug genommen. Am 01.08.2019 (Anl. K1 – Bl. 12 d. A.) berichtete das Klinikum I. über die stationäre Behandlung der Geschädigten. Für weitere Einzelheiten, insbesondere zu den Diagnosen, der Therapie und dem Verlauf bzw. der Epikrise, wird auf die genannte Anlage Bezug genommen.
Unter dem 04.09.2019 (Anl. K3 – Bl. 17 d. A.) setzte das Klinikum P. einen vorläufigen Entlassungsbrief auf. Für Einzelheiten zur Diagnose, Therapie, Befundung und zum Verlauf wird auf die genannte Anlage Bezug genommen. Das V. berichtete unter dem 28.11.2019 (Anl. K4 – Bl. 24 d. A.) über eine Behandlung der Geschädigten. Für Einzelheiten wird auf den Bericht Bezug genommen. Über einen stationären Aufenthalt vom 11.12. – 12.12.2019 verhält sich ein Arztbericht des V. vom 12.12.2019 (Anl. K5 – Bl. 26 d. A.), der hinsichtlich weiterer Einzelheiten in Bezug genommen wird.
Mit Schreiben vom 18.12.2019 (Anl. K15 – Bl. 52 d. A.) forderten die Klägerinnen von der Beklagten zu 2) die Zahlung eines Betrages von 108.064,30 EUR bis zum 17.01.2020 an. In einem Gutachten zur Pflegebedürftigkeit vom 17.01.2020 (Anl. K6 – Bl. 28 ff. d. A.) stellte der E. einen seit dem 22.07.2019 bestehenden Pflegegrad der Stufe 5 betreffend die Geschädigte fest. Für weitere Einzelheiten wird auf das genannte Gutachten verwiesen. Unter dem 31.01.2020 (Anl. K16 – Bl. 55 d. A.) wies die Beklagte zu 2) gegenüber den Klägerinnen sämtliche Ansprüche unter Verweis auf ein alleiniges Verschulden der Geschädigten abschließend zurück. Mit Schreiben vom 20.08.2020 (Anl. K18 – Bl. 62 d. A.) bekräftigte die Beklagte zu 2) ihre Ablehnung.
Im Rahmen des mit den Klägerinnen bestehenden Teilzahlungsabkommens zahlte die Beklagte zu 2) bisher einen Betrag von jeweils 11.000,00 EUR.
Die Klägerinnen behaupten betreffend den Hergang des Unfalls, der Beklagte zu 1) habe das vorausfahrende und abbiegende Fahrzeug unter Nutzung der Gegenfahrbahn überholt, da beide Fahrzeuge in gleicher Richtung unterwegs gewesen seien, und dabei beschleunigt. Der Beklagte zu 1) sei mit einer Geschwindigkeit von „mindestens 60 km/h“ gefahren. Für die Geschädigte sei der Beklagte zu 1) dabei nicht zu erkennen gewesen, weshalb ihr – sie die Auffassung der Klägerinnen, kein Verstoß gegen § 25 StVO vorzuwerfen sei. Nach dem die Klägerinnen ursprünglich in der Klageschrift noch behauptet haben, umgekehrt habe auch der Beklagte zu 1) die Geschädigte nicht erkennen können, behaupten sie zuletzt, der Beklagte zu 1) habe die Geschädigte sehen können.
Weitergehend behaupten die Klägerinnen, dem Beklagten zu 1) sei es möglich gewesen, hinter der Geschädigten am rechten Fahrbahnrand vorbeizufahren.
Die Klägerinnen vertreten in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass der Beklagte zu 1) hinter dem Fahrzeug habe fahren müssen. Das Überholmanöver sei daher grob fahrlässig und rücksichtslos gewesen. Er habe den Unfall in Ansehung des unzulässigen Überholmanövers, welches unter zusätzlichem Verstoß gegen das Sichtfahrgebot durchgeführt worden sei, alleine zu verschulden. Die Geschädigte habe als Fußgängerin demgegenüber darauf vertrauen dürfen, dass niemand in der Manier des Beklagten zu 1) an einem abbiegenden Fahrzeug vorbeifährt.
Betreffend den Behandlungsverlauf, für den die Klägerinnen u.a. Kostenerstattung verlangen und den die Beklagten durchweg mit Nichtwissen bestreiten, behaupten die Klägerinnen, dass die Geschädigte am 26.06.2019 im Klinikum I. auf der Intensivstation aufgenommen worden sei. Im Rahmen der stationären Behandlung seien die erlittenen Beckenbrüche unter dem 04.07.2019 mittels Osteosynthese operativ versorgt und Operationen zur Wundversorgung am 11., 22. und 24.07.2019 durchgeführt worden. Nach stationärer Behandlung im Klinikum I. bis zum 03.09.2019 sei eine Verlegung der Geschädigten in das Ev. Krankenhaus P. zwecks Rehabilitation erfolgt, wo die stationäre Behandlung, in deren Rahmen die Anlegung eines Harnkatheters erforderlich geworden sei, bis zum 24.10.2019 angedauert habe. Vom 24.10. bis zum 13.11.2019 habe sich die Geschädigte in Kurzzeitpflege befunden, bevor sie dann in die vollstationäre Pflege aufgenommen worden sein. In der Zeit vom 11.12. – 12.12.2019 sei die Geschädigte jedoch zunächst neuerlich stationär behandelt, um eine gelockerte Schraube im Bereich des Os Sacrum zu befestigen. Wegen einer Verstopfung des Katheters sowie weiterer Koprostasen seien am 14.06.2020 eine ambulante und vom 30.07. bis zum 05.08.2020 eine weitere stationäre Behandlung der Geschädigten erfolgt. In der Zeit vom 05. bis 10.12.2020 habe eine unfallbedingte Lungenentzündung bestanden und vom 19. bis zum 23.12.2020 sei bei der Geschädigten eine Urozystis stationär behandelt worden, die durch den Katheter verursacht worden sei. Eine Harnwegsinfektion habe dann eine weitere stationäre Krankenhausbehandlung vom 01. bis zum 04.05.2021 bedingt. Diese Infektion sei unfallkausal gewesen. Weitere Krankenhausaufenthalte hätten in der Folge am 05.01.2022, vom 02. bis zum 07.02.2022 und vom 10. bis zum 11.02.2022 stattgefunden. Auch diese Aufenthalte seien unfallbedingt gewesen.
Hinsichtlich der konkret eingetretenen Verletzungen, die den behaupteten Behandlungsverlauf bedingten haben sollen, behaupten die Klägerinnen, ebenfalls von den Beklagten durchweg mit Nichtwissen bestritten, dass die Geschädigte nach dem Unfall in Lebensgefahr geschwebt und sich die folgenden Verletzungen zugezogen habe:
• Schädel-Hirn-Trauma
• Traumatische Subarachnoidalblutung
• Hygrombildung beidseits
• Verdacht auf Hirnorganisches Psychosyndrom
• Beckentrauma, hintere Beckenringfraktur recht mit Beteiligung des Os Sacrum
• Sprengung der linken ISG-Fuge mit weiteren Brüchen
• Abrissfraktur des Processus transversi LWK 3 bis LWK 5 links
• Retroperitoneales Hämatom
• Bänderverletzung und Absprengung des Tibiaplateaus im rechten Knie
• Diverse Quetsch-, Schürf- und Prellungsverletzungen
• Traumatische Aniskorie (Augenschaden)
• Nekrose rechter Oberschenkel
Als Folge des Unfalls seien ferner schwerste kognitive Beeinträchtigungen verblieben. Die Geschädigte sei voll pflegebedürftig und habe Pflegegrad 5. Sie benötige daher auch Inkontinenzartikel und werde weiterhin stationär gepflegt. Hierbei handele es sich um einen Dauerzustand, so dass auch für die Zukunft unfallbedingte Leistungen der Klägerinnen sicher zu erwarten stünden.
Die Klägerinnen behaupten unter Verweis auf die Kostenaufstellung in Anlage K7 (Bl. 42 ff. d. A.), dass der Klägerin zu 1) im Rahmen der Krankenversicherung bisher Kosten i.H.v. 159.299,34 EUR und der Klägerin zu 2) im Rahmen der Pflegeversicherung Kosten über 55.190,22 EUR entstanden seien. Für Einzelheiten zur Zusammensetzung der Forderungen wird im Übrigen auf die das schriftsätzliche Vorbringen in. Bl. 7 d. A. verwiesen.
Die Klägerin zu 1) beantragt,
1. die Beklagten zur verurteilen, als Gesamtschuldner an sie einen Betrag in Höhe von 159.299,34 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 97.064,30 seit dem 01.02.2020 und im Übrigen seit Rechtshängigkeit zu bezahlen;
2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtliche weiteren übergangsfähigen Leistungen zu ersetzen, soweit sie dem Ausgleich der Schäden dienen, die der Versicherten der Klägerin, M., aus dem Unfall vom H. N01 beteiligt war, entstanden sind und weiter entstehen. Die Haftung der Beklagten zu 2. ist begrenzt auf die vereinbarte Deckungssumme des Versicherungsvertrages.
Die Klägerin zu 2) beantragt,
3. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an sie einen Betrag in Höhe von 55.190,22 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 843,83 EUR seit dem 21.08.2020 und im Übrigen seit Rechtshängigkeit zu bezahlen;
4. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtliche weiteren übergangsfähigen Leistungen zu ersetzen, soweit sie dem Ausgleich der Schäden dienen, die der Versicherten der Klägerin, M., aus dem Unfall vom H. N01 beteiligt war, entstanden sind und weiter entstehen. Die Haftung der Beklagten zu 2. ist begrenzt auf die vereinbarte Deckungssumme des Versicherungsvertrages.
Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.
Die Beklagten behaupten betreffend das Unfallgeschehen, dass die Geschädigte auf die Straße getreten sei, ohne nach links oder rechts zu schauen, wobei die Geschädigte des Motorrads aufgrund seiner Lautstärke jedenfalls habe hören können. Der sich mit der zulässigen Geschwindigkeit von 43 km/h nähernde Beklagte zu 1) habe die Geschädigte umgekehrt erst gesehen, als diese 1,4 Sekunden vor der Kollision aus dem Sichtstatten des Fahrzeugs getreten sei, hinter dem sie auf die Straße getreten sei. Die Kollision sei unter diesen Umständen für den Beklagten nicht mehr zu verhindern gewesen.
Die Beklagten vertreten die Auffassung, dass ein Fußgänger, der unmittelbar vor einem von links kommenden Fahrzeug bei Dunkelheit die Fahrbahn tritt, allein für eine nachfolgende Kollision verantwortlich sei. Sie habe so eklatant gegen die ihr obliegenden Verpflichtungen aus § 25 Abs. 3 StVO verstoßen und den herannahenden Verkehr unbeachtet gelassen, obgleich ihr in 36 Metern – was unstreitig ist – eine Fußgängerinsel zwecks Überquerung zur Verfügung gestanden habe. Dass unmittelbar hinter einem abbiegenden Fahrzeug noch weitere Fahrzeuge folgen und mit unverminderter Geschwindigkeit weiterfahren, dränge sich geradezu auf. Die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs trete hinter dem Maß der der Pflichtwidrigkeit zurück. Der Beklagte zu 1) habe auch im Lichte des Vertrauensgrundsatzes nicht damit rechnen müssen, dass die Geschädigte in einem Abstand, der nur eine Reaktionszeit von 1,4 Sekunden ließ, auf die Fahrbahn trete. Die Regelung des § 1 Abs. 2 StVO gelte dabei gerade nicht zugunsten derjenigen Verkehrsteilnehmer, die wartepflichtig seien.
Die Kammer hat Beweis zum Hergang des Unfalls durch Beiziehung des im Rahmen des Ermittlungsverfahrens eingeholten Gutachtens des Sachverständigen Dipl. Ing. C. vom 19.09.2019 (Bl. 180 ff. d. A.). Ferner ist insoweit ergänzend Beweis erhoben worden durch Einvernahme der Zeugen G., Y. und F. sowie die eine mündliche Erläuterung des Sachverständigengutachtens durch den Sachverständigen N.. Für Einzelheiten wird insoweit auf das Protokoll des Termins zur mündlichen Verhandlung vom 29.06.2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
A)
I)
1)
Die örtliche Zuständigkeit folgt betreffend den Beklagten zu 1) aus den §§ 12, 13 ZPO und betreffend die Beklagte zu 2) aus § 20 StVG. In sachlicher Hinsicht folgt die Zuständigkeit in Ansehung der jeweils verfolgten Zahlbeträge aus den §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG.
2)
Auch liegen jeweils die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO hinsichtlich der Feststellungsanträge vor. Auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses kann nach dieser Regelung Klage erhoben werden, wenn der Kläger ein rechtliches Interesse daran hat, dass das Rechtsverhältnis oder die Echtheit oder Unechtheit der Urkunde durch richterliche Entscheidung alsbald festgestellt werde.
a)
Die Frage einer Schadensersatzpflichtigkeit aus einem Unfallereignis ist eine aus einem bestimmten Lebenssachverhalt abgeleitete Rechtsbeziehung zwischen zwei Personen – nämlich in Gestalt eines gesetzlichen Schuldverhältnisses – und damit ein Rechtsverhältnis im Sinne der Norm (BGH NJW-RR 2015, 915 Rn. 8).
b)
Das Rechtsverhältnis ist zudem ein gegenwärtiges. Dem steht nicht entgegen, dass im Falle des § 86 VVG dies nicht der Fall ist, wenn der Versicherer noch keine Leistungen erbracht hat (BGH NJW 2021, 1090 Rn. 31).
Der Übergang von Schadensersatzansprüchen nach § 116 SGB X erfolgt regelmäßig schon im Zeitpunkt des Unfalls, soweit nicht völlig unwahrscheinlich ist, dass der Sozialversicherungsträger dem Geschädigten nach den Umständen des Schadensfalles Leistungen zu erbringen hat, die sachlich und zeitlich mit den Schadensersatzansprüchen des Geschädigten kongruent sind. Für den Rechtsübergang reicht im Interesse eines möglichst weitgehenden Schutzes des Sozialversicherungsträgers vor anderweitigen Verfügungen des Geschädigten schon eine, wenn auch weit entfernte Möglichkeit des Eintritts von Leistungspflichten aus; es darf nur die Entstehung solcher Pflichten nicht völlig unwahrscheinlich, also geradezu ausgeschlossen erscheinen (OLG Hamm Urt. v. 28.10.2022 – I-7 U 25/22, BeckRS 2022, 38552 Rn. 22, 23, beck-online).
Nach der Kollision eines Fußgängers mit einem Motorrad bei nicht unerheblicher Geschwindigkeit liegt eine Eintrittspflicht der Klägerinnen – mögen Einzelheiten zu den Verletzungen und dem Behandlungsverlauf auch streitig sein – nahe und ist nicht etwa ausgeschlossen. Damit kommt es auch nicht auf die Frage an, ob und in welchem Umfang den Klägerinnen bereits Kosten entstanden sind.
c)
Letztlich steht den Klägerinnen ein Feststellungsinteresse zur Seite. Ein rechtliches Interesse an einer alsbaldigen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses ist gegeben, wenn dem Recht oder der Rechtslage des Klägers eine gegenwärtige Gefahr der Unsicherheit droht und wenn das erstrebte Urteil geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen. Bei einer behauptenden Feststellungsklage liegt eine solche Gefährdung in der Regel schon darin, dass der Beklagte – wie hier – das Recht des Klägers ernstlich bestreitet (BGH NZM 2021, 722 Rn. 18).
Soweit die Klägerinnen die Feststellung der Ersatzpflichtigkeit der Beklagten betreffend etwaiger zukünftiger materieller Schäden begehren, ist bei der – wie hier gegebenen – Verletzung absoluter Rechte die Möglichkeit des Eintritts weiterer Schäden ausreichend, um auch insoweit ein Feststellungsinteresse zu begründen (vgl. BGH NJW 2021, 3130 Rn. 30). Im Lichte der dargestellten Grundsätze zum Übergang der Forderungen nach § 116 SGB X kann auch für die Klägerinnen als nicht selbst Verletzte nichts Abweichendes gelten.
Da jedenfalls schlüssig vorgetragen ist, dass die Geschädigte schwerstgeschädigt und dauerhaft auf Pflege angewiesen ist, ist die Möglichkeit des Eintritts weiterer Schäden zweifelsohne dargelegt.
Da darüber hinausgehend nicht in Rede steht, dass Haftungshöchstgrenzen bzw. die Mindestversicherungssumme der Beklagten zu 2) im Verhältnis zum Beklagten zu 1) bereits ausgeschöpft sind, fehlt auch insoweit nicht das Feststellungsinteresse (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Jahnke, 27. Aufl. 2022, StVG § 12 Rn. 30a).
II)
1)
Der Klägerin zu 1) steht gegenüber den Beklagten kein Anspruch auf Schadensersatz i.H.v. 159.229,34 EUR aus §§ 116 Abs. 1 S. 1 SGB X, 7 Abs. 1 StVG i.V.m. 249 BGB i.V.m. 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG zu.
Die Voraussetzungen für einen Anspruchsübergang nach § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X liegen nicht vor. Ein auf anderen gesetzlichen Vorschriften beruhender Anspruch auf Ersatz eines Schadens geht nach dieser Regelung auf den Versicherungsträger oder Träger der Eingliederungshilfe oder der Sozialhilfe über, soweit dieser auf Grund des Schadensereignisses Sozialleistungen zu erbringen hat, die der Behebung eines Schadens der gleichen Art dienen und sich auf denselben Zeitraum wie der vom Schädiger zu leistende Schadenersatz beziehen.
Ein auf anderen gesetzlichen Vorschriften beruhender Anspruch ist jeder, der außerhalb des SGB geregelt ist. Erfasst werden zivilrechtliche wie öffentlich-rechtliche Schadensersatzansprüche und damit auch § 7 Abs. 1 StVG (BeckOK SozR/von Koppenfels-Spies, 68. Ed. 1.3.2023, SGB X § 116 Rn. 6, 6a). Der Geschädigten steht gegenüber den Beklagten aber ein Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. 249 BGB i.V.m. 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG ebenso wenig zu, wie ein solcher aus § 823 Abs. 1 BGB.
Zwar liegt der haftungsbegründende Tatbestand vor, die Geschädigte hat die Kollision allerdings alleine zu verschulden. Im Einzelnen:
a)
Das von dem Beklagten zu 1) geführte Motorrad stellt ein Kraftfahrzeug im Sinne der Regelung dar, da es im Sinne von § 1 Abs. 2 StVG durch Maschinenkraft bewegt wird, ohne an Bahngleise gebunden zu sein.
b)
Der Beklagte zu 1) ist auch unstreitig Halter des Motorrades gewesen.
c)
Eine Primärschädigung in Gestalt einer Körperverletzung, für die das Beweismaß des § 286 ZPO gilt (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 7 Rn. 268), steht unabhängig von dem Streit über die konkret eingetretenen Verletzungen und dem streitigen Behandlungsverlauf fest. Zwischen den Parteien steht jedenfalls nicht in Streit, dass die Geschädigte bei einer Geschwindigkeit von (wenigstens) über 40 km/h (s.u.) von dem Motorrad des Beklagten zu 1) erfasst wurde.
Selbst wenn man diesen Aspekt als streitig betrachten wollte, steht eine Körperverletzung dem Grunde nach zur Überzeugung des Gerichts fest. Insoweit hat die Zeugin Y., die als Krankenpflegerin in der Notaufnahme über die notwendige fachliche Kompetenz verfügt, um den Gesundheitszustand der Geschädigten zu beurteilen und die Sachlage daher belastbar beschreiben zu können, bekundet, direkt nach dem Aussteigen gesehen zu haben, dass die Geschädigte schwere Verletzungen erlitten habe, wobei sie dies nach Ausführungen zu ersten von ihr eingeleiteten Untersuchungsmaßnahmen u.a. dahingehend konkretisiert hat, dass die Geschädigte am Kopf über der Schläfe eine große und „sehr tiefe“ Wundöffnung erlitten habe und in einem bradykarden Zustand mit herabgesetzter Atmung gewesen sei. In Zusammenschau mit den diversen vorgelegten Behandlungs- und Arztberichten, deren Echtheit bzw. Überstimmung mit dem Original nicht bestritten ist, so dass auch die Scans zur Überzeugungsbildung des Gerichts herangezogen werden können (Musielak/Voit/Huber, 20. Aufl. 2023, ZPO § 420 Rn. 1), wobei Krankenhäuser nicht pflegen, Behandlungsberichte mit Diagnosen etc. über Patienten aufzusetzen, die sie in der angegebenen Form wegen der festgehaltenen Verletzungen gar nicht behandelt haben, verbleiben keine ernstlichen Zweifel an einer erheblichen Verletzung der Geschädigten.
d)
Da die Kollision im Rahmen des Fahrbetriebs bei einer Geschwindigkeit von wenigstens 43 km/h erfolgte, steht nicht in Rede, dass sich die Schädigung bei Betrieb des Motorrades ereignete.
e)
Unabhängig von der Frage, ob § 7 Abs. 2 StVG im Verhältnis des Fußgängers zum PKW überhaupt anwendbar ist, liegt jedenfalls in dem Unfallereignis keine höhere Gewalt im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG. Auch einer der Ausschlussgründe des § 8 StVG ist nicht gegeben.
f)
Die Frage des konkreten Schadens in Gestalt von Behandlungs- und Pflegekosten dahingestellt bleiben lassend steht der Geschädigten ein Schadensersatzanspruch insoweit nicht zu, weil dieser gem. §§ 9 StVG i.V.m. § 254 BGB ausgeschlossen ist. Eine Sorgfaltspflichtenverletzung der Geschädigten hat das Unfallereignis allein verursacht.
In einem ersten Schritt sind die wechselseitigen Verantwortungsbeiträge mit Blick auf das Unfallgeschehen zu ermitteln, die in der folgenden Abwägung Berücksichtigung zu finden haben. Dabei dürfen nur die Verursachungs- und Verschuldensanteile berücksichtigt werden, die festgestellt wurden, d.h. unstreitig, zugestanden oder bewiesen sind und sich auf die Schadensentstehung ausgewirkt haben. Maßgeblich sind verkehrswidriges Verhalten – u.a. durch Verstöße gegen Verhaltensvorschriften der StVO -, aber auch die Betriebsgefahr eines bei dem Ereignis involvierten Fahrzeugs (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 9 Rn. 24 f.).
aa)
(1)
Der Geschädigten ist anzulasten, gegen ihre Pflichten aus § 25 Abs. 3 StVO verstoßen zu haben.
Wer zu Fuß geht, hat S.1 der genannten Regelung Fahrbahnen unter Beachtung des Fahrzeugverkehrs zügig auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung zu überschreiten. Wenn die Verkehrsdichte, Fahrgeschwindigkeit, Sichtverhältnisse oder der Verkehrsablauf es erfordern, ist eine Fahrbahn nach S. 2 nur an Kreuzungen oder Einmündungen, an Lichtzeichenanlagen innerhalb von Markierungen, an Fußgängerquerungshilfen oder auf Fußgängerüberwegen (Zeichen 293) zu überschreiten und S. 3 der Norm konstatiert, dass bei Überschreiten der Fahrbahn an Kreuzungen oder Einmündungen dort vorhandene Fußgängerüberwege oder Markierungen an Lichtzeichenanlagen stets zu benutzen.
Mit Blick auf das Vorrecht des fließenden Verkehrs, welches durch die Regelung – vgl. § 25 Abs. 3 S. 1 StVO – ebenfalls geschützt wird, haben Fußgänger bei Überschreiten der Fahrbahn besondere Vorsicht walten und dem fließenden Verkehr den Vorrang zu überlassen, was erfordert, dass der Fußgänger darauf zu achten hat, nicht in die Fahrbahn eines sich nähernden Fahrzeugs zu geraten. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, ist ihm abzuverlangen, sich vor dem Betreten der Fahrbahn gerade abseits besonderer Querungshilfen, die hier unstreitig in geringer Entfernung zur Verfügung gestanden hätten, besonders sorgfältig davon zu überzeugen, dass der bevorrechtigte Verkehr nicht gefährdet oder behindert wird (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 27. Aufl. 2022, StVO § 25 Rn. 10).
Wenn ein Kraftfahrzeug – wie vorliegend – auf seiner rechten Fahrbahnseite mit einem von rechts kommenden Fußgänger zusammenstößt, so ist ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Nichtbeachtung der Sorgfaltspflichten des § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO durch den Fußgänger einschlägig (OLG Düsseldorf, Urteil vom 10. April 2018 – I-1 U 196/14 -, Rn. 56, juris; OLG Hamm, Urteil vom N01. Februar 2016 – I-26 U 105/15 -, Rn. 29, juris).
Dieser Anschein ist vorliegend auch nicht erschüttert. Letztlich kommt es darauf aber auch nicht an. Selbst wenn man nicht von einem Anscheinsbeweis ausgehen würde, lässt sich anhand der Umstände ein eklatanter Verstoß gegen das nach § 25 Abs. 3 StVO gebotene Verhalten nachweisen lassen. Im Einzelnen:
Die Klägerin zu 1) beruft sich in Ansehung des erheblich erhöhten Sorgfaltsmaßstabes bereits im Ausgangspunkt unzutreffend darauf, dass die Geschädigte darauf habe vertrauen dürfen, dass an dem Fahrzeug niemand vorbeifahren bzw. dieses unter Nutzung der Gegenfahrbahn überholen werde. Einen solchen Grundsatz gibt es nicht. Er entbehrt auch jeder belastbaren (Erwartungs-)Grundlage. Vielmehr muss bei Fahrzeugen, die die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht ausnutzen bzw. ihre Fahrt verlangsamen, grundsätzlich damit gerechnet werden, dass dahinter fahrende und womöglich zunächst nicht wahrgenommene Fahrzeuge zum Überholen oder zur Vorbeifahrt ansetzen (BGH, Urteil vom 12. Juli 1983 – VI ZR 286/81 -, Rn. N01, juris; Rogler in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 25 StVO (Stand: 01.12.2021), Rn. 88, 91. Davon ausgehend hätte es der Geschädigten bereits grundsätzlich oblegen, das Überschreiten der Fahrbahn Zurückzustellen, bis das vor dem Beklagten zu 1) fahrende rote Fahrzeug im Rahmen des Abbiegevorgangs den Blick auf den weiteren Straßenverlauf freigegeben hätte, so dass Sicherheit bestanden hätte, dass kein weiteres Fahrzeug geradeaus weiterfährt.
Nach dem Ergebnis des in dem vorangegangenen Ermittlungsverfahren gegen den Beklagten zu 1) eingeholten Sachverständigengutachtens des Dipl.-Ing. N. vom 19.09.2019, das mit Rücksicht auf die konkreten Sichtverhältnisse und (nicht veränderten) örtlichen Begebenheiten nicht einmal 1 ½ Stunden (S. 3 d. GA. – Bl. 124 d. BA.) nach dem Unfallgeschehen angefertigt worden ist (vgl. S. 8/9 d. GA – Bl. 129 d. BA), hatte die Geschädigte aufgrund des geraden Fahrbahnverlaufs auch grundsätzlich die Möglichkeit, Fahrzeuge auf größere Entfernung wahrzunehmen. Die Einschätzung lässt sich mit Blick auf das Lichtbild Nr. 23 (Bl. 157 d. BA.) zum Gutachten zwanglos nachvollziehen, wobei sich ausgehend von dem Ergebnis des Gutachtens, dass die Geschädigte die Fahrbahn vom Heck des dort abgebildeten Dacia und damit näher in Richtung des Beklagten zu 1) betrat (S. 15 f. d. GA – Bl. 136 f. d. BA.), eine noch bessere Sicht auf die Fahrtrichtung ergab, aus der sich u.a. der Beklagte zu 1) näherte, da sich der Dacia so gerade nicht im Blickfeld der Geschädigten befand.
Weitergehend ist das Gutachten auch für die Behauptung der Klägerin unergiebig, dass der Kläger überhaupt aus einem Sichtschatten heraus für die Geschädigte zunächst nicht wahrnehmbar überholt haben könnte. Auf Grundlage der durch den Sachverständigen ermittelten Annäherungsgeschwindigkeit, des Unfallverlaufs und der Entfernungen (dazu nachfolgend eingehender) hat dieser bereits die Durchführung eines Überholmanövers durch den Beklagten zu 1) angezweifelt (S. 21 d. GA. – Bl. 142 d. BA.).
Unabhängig davon ist der Sachverständige jedenfalls zu dem Ergebnis gekommen, dass die Geschädigte das Herannahen des Motorrades aufgrund des angeschalteten Abblendlichts habe erkennen können (S. 21 d. GA. – Bl. 142 d. BA.). Die Aussage, dass das Abblendlicht des Motorrades eingeschaltet war, hat der Sachverständige nachvollziehbar auf Grundlage seiner technischen Untersuchung damit begründet, dass die Verformung des Glühwendels von Abblend- und Standlicht, die er festgestellt hat und die auf Lichtbild Nr. 53, 54 zum Gutachten illustriert ist, nur im heißen – angeschalteten – Zustand eintreten kann, weil das Material sonst verformungsstabil ist (S. 12 f. d. GA. – Bl. 133 f. d. BA.). Die mündliche Erläuterung des Gutachtens durch den Sachverständigen im Termin zur mündlichen Verhandlung hat insoweit nichts Abweichendes ergeben. Zwar hat der Sachverständige – auch den Darstellungen, die als Anlage zum Protokoll genommen worden sind (Bl. 290a ff. d. A.), zugrunde liegend – angenommen, dass das Motorrad in den beiden betrachteten Konstellationen jeweils verdeckt gewesen ist, allerdings der Lichtkegel des aktivierten Abblendlichts sichtbar gewesen sei.
Nach den Angaben der Zeugin F. ist auch davon auszugehen, dass das Motorrad für die Geschädigte nicht nur optisch, sondern auch akustisch wahrnehmbar war. Dies ergibt sich bereits aus den Angaben der Zeugin im Ermittlungsverfahren. Laut der Unfallaufnahme (Bl. 18 d. BA) und des Aktenvermerks in Bl. 32 d. habe sie ein „sehr lautes“ Motorrad hören können, wobei sie in ihrer schriftlichen Zeugenaussage (Bl. 84 d. BA.) weiter angegeben habe, dass sich dieses „schnell angehört“ habe. Dies steht im Einklang mit den Angaben der Zeugin ggü. dem erkennen Gericht, wonach sie ein lauter werdendes Motorrad gehört habe, und auch den Angaben des Zeugen G., der ebenfalls betonte, dass es ein „lautes Motorrad“ gewesen sei. Da die Zeugin nach eigenen Angaben trotz des Umstandes, dass sie mit ihrem Handy beschäftigt war, ein lauter werdendes Motorrad gehört hat, lässt dies den Schluss zu, dass auch die Geschädigte das Motorrad hören konnte bzw. hätte hören können.
Letztlich kommt es aber auf diese beiden Punkte der Wahrnehmbarkeit, die auch im Termin zur mündlichen Verhandlung eingehend unter Beteiligung des Sachverständigen diskutiert worden sind, im Rahmen der Frage nach der Pflichtverletzung dem Grunde nach (anders bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge) nicht an, denn die Geschädigte durfte vor dem abbiegenden Fahrzeug gar nicht erst in der Erwartung auf die Straße treten, dahinter werde sich schon kein weiteres Fahrzeug nähern.
Die Kammer war nicht gehindert, das im Ermittlungsverfahren gegen den Beklagten zu 1) durch die Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebene Gutachten zur Beurteilung dieser Frage bzw. des Unfallhergangs insgesamt heranzuziehen. Das Gutachten war nach § 411a ZPO verwertbar. Die schriftliche Begutachtung kann danach durch die Verwertung eines gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden. Die Voraussetzungen der Norm liegen vor. Es ist im Ermittlungsverfahren bereits ein Gutachten angefertigt worden. Ausweislich Bl. 44 d. BA. geschah dies auf Anordnung der Staatsanwaltschaft, so dass ein staatsanwaltschaftliches Gutachten vorliegt. Das Ermessen des Gerichts war ferner dahingehend anzuwenden, dass das Gutachten beizuziehen ist. Es entspricht den formellen Anforderungen, es ist verwertet worden, Ablehnungsgründe sind nicht ersichtlich und die getroffenen Feststellungen (Wahrnehmbarkeit, Vermeidbarkeit, Annäherungsgeschwindigkeit, Unfallhergang, Örtlichkeit) sind sämtlich Punkte, die gleichsam im Rahmen eines Rekonstruktionsgutachtens für den hiesigen Rechtsstreits zu beantworten und zu beleuchten wären.
Es handelt es sich hierbei auch nicht um eine teilweise Ausforschung. Zwischen den Parteien des hiesigen Rechtsstreits steht nicht nur die wechselseitige Erkennbarkeit der Unfallbeteiligten in Rede, sondern (neuerlich) u.a. die von dem Beklagten eingehaltene Geschwindigkeit und die Frage in welche Reaktionsmöglichkeit dem Beklagten verblieb.
(2)
Dem Beklagten zu 1) sind demgegenüber keine unfallkausalen Pflichtverletzungen anzulasten.
(a)
Ein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 3 Abs. 1 S. 1, S. 2 StVO steht zur Überzeugung des Gerichts nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht fest.
Wer ein Fahrzeug führt, darf nach § 3 Abs. 1 S. 1 StVO nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Nach S. 2 der Regelung ist die Geschwindigkeit insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Klägerin zu 1) jedoch beweisfällig für die Behauptung geblieben, dass der Beklagte zu 1) die vor Ort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überschritten hat. Der Sachverständige N. hat in seinem Gutachten vom 19.09.2019 unter Berücksichtigung der örtlichen Begebenheiten zum Unfallzeitpunkt, dem Schadensbild und einer Weg-Zeit-Betrachtung ermittelt, dass das Fahrzeug bei Sturzbeginn eine Geschwindigkeit von 36-47 km/h und eine Kollisionsgeschwindigkeit von 43 – 58 km/h aufwies. Aus der mündlichen Erläuterung des Gutachtens haben sich keine abweichenden Erkenntnisse ergeben, vielmehr hat der Sachverständige auch nach Berücksichtigung der Angaben der Zeugen, deren Vernehmung er beigewohnt hat, der Erläuterung diese beiden Betrachtungsalternativen zugrunde gelegt.
Auf Grundlage der Angaben der einvernommenen Zeugen lässt sich ebenfalls keine Geschwindigkeitsüberschreitung nachweisen. Das gilt zunächst für die sich aus den Ermittlungsakten ergebenden Angaben der Zeugen. Zwar mag in der Unfallmitteilung noch festgehalten sein, dass die Zeugin Y. den Eindruck gehabt habe, dass der Beklagte zu 1) wesentlich schneller als 50 m/h gefahren sei, wobei der Zeuge G. die Angaben der Zeugin Y. bestätigt haben soll. In der zeugenschaftlichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren (Bl. 85 d. BA.) hat die Zeugin die festgehaltenen Angaben in der Unfallanzeige als „nicht richtig“ bezeichnet und angegeben, dass sie selbst 40 km/h gefahren sei und der Motorradfahrer – der Beklagte zu 1) – „geschätzt 50 km/h“. Der Zeuge G. schätzte die Geschwindigkeit des Motorrades auf 50-60 km/h, möglicherweise aber auch 70 km/h, wobei er meinte, dass der Fahrer „deutlich Gas“ gegeben habe. Eine verlässliche Schätzung, die sich weit von dem entfernt, was nach dem Gutachten nachweisbar ist, ist das nicht.
Die Einvernahme der Zeugin Y. durch das erkennende Gericht hat nichts weitergehend Ergiebiges erbracht. Die Zeugin hat sich vielmehr darauf berufen, mit Blick auf den Zeitablauf heute nicht mehr abschätzen zu können, wie schnell das Motorrad gewesen ist und sich insoweit auf ihre Angaben im Ermittlungsverfahren bezogen. Entsprechendes gilt im Ergebnis die Angaben des Zeugen G., der im Einklang mit seinen Angaben im Ermittlungsverfahren die Fahrt des Beklagten zu 1) als „flott“ beschrieb, die Geschwindigkeit allerdings nicht konkret einzuordnen vermochte. Vielmehr beschrieb er seine Schätzung im Ermittlungsverfahren als „zu viel“ und meinte zuletzt, dass es wohl jedenfalls 50 km/h gewesen sein.
(b)
Die Klägerinnen können sich auch nicht mit Erfolg auf einen Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 3 Abs. 1 S. 4 StVO berufen. Es darf nach dieser Regelung nur so schnell gefahren werden, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann.
Die Regelung verlangt dem Führer eines KFZ nicht ab, sich bei der Wahl der Geschwindigkeit auf jede mögliche Eventualität einzustellen. Dies führte gerade im Stadtverkehr dazu, dass der Verkehrsfluss beinahe vollständig lahmgelegt würde, da jeder Fahrzeugführer im Blick behalten müsste, dass aus jeder Richtung in jeder Entfernung unmittelbar Fußgänger unter Missachtung ihrer Pflichten aus § 25 StVO auf die Straße treten oder der motorisierte Verkehr Vorfahrtsrechte (§ 8 StVO) verletzten werde. Die Regelung wird daher durch den Vertauensgrundsatz begrenzt (Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 3 StVO (Stand: 21.03.2022), Rn. 22; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Burmann, 27. Aufl. 2022, StVO § 3 Rn. 4), der im konkreten Fall dahingehend Bedeutung entfaltet, dass der fließende Verkehr ohne gegenläufige Anhaltspunkte nicht davon ausgehen muss, dass sich ein Fußgänger nicht über seine aus § 25 Abs. 3 StVO folgende Wartepflicht gegenüber dem fließenden Verkehr hinwegsetzt und die Straße trotz erkennbar herannahenden Fahrzeugverkehrs betritt (Helle, a.a.O., Rn. 22).
Etwas Anderes gilt nur dann, wenn sich Anhaltspunkte für den anderen Verkehrsteilnehmer dafür ergeben, dass der Fußgänger sich nicht verkehrsgerecht verhalten werde (vgl. BGH NJW 2023, 2108 Rn. 13 f.).
Dass die Geschädigte sich vor Betreten der Fahrbahn für den Beklagten zu 1) so verhalten hat, dass er damit rechnen musste, die Geschädigte werde trotz sich nährender Fahrzeuge und der sich jedem Verständigen Verkehrsteilnehmer aufdrängenden Möglichkeit, dass hinter einem Abbiegenden Fahrzeug weitere Fahrzeuge folgen, die vorliegend anhand ihres Abblendlichts zu erkennen und auch zu hören waren, die Fahrbahn in einer Entfernung betreten, die keine bis kaum Gelegenheit zur Reaktion gibt, ist schriftsätzlich zunächst nicht vorgetragen worden. Derlei lässt sich auch nicht aus den Angaben der Zeugen im Ermittlungsverfahren herleiten. Der Zeuge G. hat lediglich angegeben, die Fußgängerin bereits gesehen zu haben, bevor der Pkw rechts abgebogen ist. Zu diesem Zeitpunkt habe sie am Gehwegrand gestanden. Eine Gehbewegung, die dem Beklagten zu 1) hätte Warnung sein können oder müssen, ergibt sich daraus gerade nicht.
Soweit die Klägerin sich im Rahmen der Schriftsatzfrist die Angaben des Zeugen im Termin zur mündlichen Verhandlung zu eigen gemacht hat, wonach sich die Geschädigte „während des Abbiegevorgangs schon ziemlich mittig“ auf dem Fahrstreifen der Zeugen befunden habe, ist dies aus zweierlei Gründen nicht geeignet, die Geltung des Vertrauensgrundsatzes zugunsten des Beklagten zu 1) in Zweifel zu ziehen.
Dabei ist zunächst in den Blick zu nehmen, dass die Angaben des Zeugen bereits mit Blick auf die Geschwindigkeit und auch den Zeitablauf – freilich jeweils nachvollziehbar und nicht vorwerfbar – mit deutlichen Ungewissheiten belegt waren. Ferner muss bei der Bewertung der Aussage berücksichtigt werden, dass sich die in Bezug genommene Angabe des Zeugen, wie sich auch aus der Weg-Zeit-Betrachtung in den Anlagen zum Protokoll ergibt – auf einen Zeitraum von 1,4 Sekunden bezog, binnen derer das Motorrad aus dem Sichtschatten herauszog, also das Überholmanöver einleitete und in jedem Falle hätte wahrgenommen werden können. Eher ungenaue Angaben dahingehend, dass sie Geschädigte während des Abbiegens „auf dem Weg auf die andere Straßenseite“ und „schon ziemlich“ mittig gewesen sei, eröffnen bei einem so knappen Zeitraum und bei den hier in Rede stehenden kurzen Distanzen allenfalls Möglich- und Wahrscheinlichkeiten, von denen der Sachverständige unter Anlegung üblichen Verhaltens und gewöhnlicher Gehgeschwindigkeiten auch nur eine von ihm für lebensnah erachtete herausgreifen kann. Auf Basis einer solchen Angabe kann aber nicht mit einer für die Überzeugungsbildung relevanten Wahrscheinlichkeit, die vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen, darauf geschlossen werden, dass die Geschädigte tatsächlich schon mitten auf der Straße stand, als der Beklagte zu 1) die Entscheidung zum Ausscheren traf. Etwas Anderes folgt auch nicht aus den weiteren Angaben des Zeugen, die dieser ergänzend während der Erläuterung des Sachverständigen auf Vorhalt der Anlage T2 tätigte. Zum einen bezog sich dieser Vorhalt auf die Position des vorausfahrenden Fahrzeugs und zum anderen hat der Zeuge jedenfalls in diesem Zusammenhang mit Blick auf den zeitlichen Rahmen kritisch betont, das in Ansehung des Zeitablaufs („heute“) nicht mehr 100%-ig sagen zu können.
Weitergehend war dem ergänzenden Beweisantritt der Klägerinnen im nachgelassenen Schriftsatz vom 11.07.2023 betreffend die Behauptung, der Beklagte zu 1) habe die Klägerin bereits auf der Fahrbahn gehend durch das vorausfahrende Fahrzeug sehen können, nicht nachzugehen. Der Beweisantritt durch Sachverständigengutachten ist vorliegend ungeeignet, um zu einer entsprechenden Überzeugungsbildung zu führen, weil es dem Sachverständigen für eine brauchbare Beurteilung an den nötigen Anknüpfungstatsachen fehlt. So hat der Sachverständige für die bereits diskutierte Frage der umgekehrten Wahrnehmbarkeit des Beklagten zu 1) durch die Geschädigte im Termin zur mündlichen Verhandlung festgehalten, dass diese Frage davon abhängt, auf welcher Sitzhöhe sich der Beklagte zu 1) befand und welches Fahrzeug vorausfuhr. Davon lässt sich gerade die letztgenannte Variable nicht ermitteln: Die Zeugen konnten lediglich angeben, dass es sich um einen Kleinwagen gehandelt habe und keine weitere Eingrenzung vornehmen. Es versteht sich von selbst, dass das Fahrzeugmodell des vorausfahrenden Fahrzeugs in Ansehung der nahezu unzähligen Ausstattungs- und Designmerkmale der Fahrzeuge verschiedener Hersteller von erheblicher Bedeutung für die Bedeutung der Sichtbarkeit eines Fußgängers durch den Innenraum eines Fahrzeugs für ein hinter dem Fahrzeug fahrendes Motorrad ist. Maßgeblich kann dabei sein, ob es sich um ein niedriges Fahrzeug oder ein hohes Fahrzeug, um ein Fahrzeug mit Steil- oder Schrägheck mit entsprechend unterschiedlicher Lagerung der Heckscheibe handelt, wie ggf. die Kopfstützen gerade hinten im Auto mit entsprechender Beeinträchtigung des Sichtfeldes eingestellt waren und mit wie vielen Personen das Auto überhaupt besetzt war, um klären zu können, an wie vielen Köpfen vorbei der Beklagte zu 1) die Geschädigte hätte sehen müssen.
In diesem Zusammenhang ist der Schluss, den die Klägerinnen von der Wahrnehmung des Zeugen G. auf die Sichtbarkeit für den Kläger ziehen wollen, nicht valide und gebietet auch keine abweichende Beurteilung. In Anbetracht der vorangehend betonten Unwägbarkeiten lässt sich aus dem Blickfeld des Zeugen, der in weiterem Abstand in einem Auto saß nicht zwingend auf das Sichtfeld eines Motorradfahrers eine Fahrzeuglänge hinter dem abbiegenden Fahrzeug schließen. Dies illustriert die zum Protokoll genommene Anlage T5, in denen – wie der Sachverständige betonte – allein zur Veranschaulichung zum einen eine ältere A-Klasse und ein Ford KA berücksichtigt sind. Hieraus lässt sich aber nicht nur – wie in der mündlichen Verhandlung vornehmlich in den Blick genommen – die Verdeckung des Helmes durch die Dachkante des Fahrzeugs exemplarisch darstellen, sondern auch, welchen Einfluss die konkrete Bauweise des Kleinwagens auf das Sichtfeld des Motorradfahrers haben kann.
Im Übrigen würde allein die tatsächliche Wahrnehmung des Beklagten zu 1) von der bereits auf der Straße oder bereits angelaufenen Geschädigten den Vertrauensgrundsatz entfallen lassen. Soweit der Beweis darauf gerichtet ist, dass der Beklagte zu 1) die Geschädigte habe sehen können, ist das gerade nicht ausreichend. Das Beweisangebot ist insoweit nur auf Tatsachenermittlung bezüglich eines Indizes gerichtet. Indizien können aber nur dann Grundlage einer Überzeugungsbildung sein, wenn sie einen zwingenden Schluss auf die zu beweisende Haupttatsache zulassen und folglich andere Schlüsse aus den Indiztatsachen ernstlich nicht in Betracht kommen (BGH NJW 1993, 935). Das ist aber in Ansehung der oben aufgezählten Unklarheiten, die sich daraus ergeben, dass sich nicht ermitteln lässt, hinter welcher Art von Fahrzeug der Beklagte zu 1) fuhr, nicht der Fall.
(c)
Ferner ist dem Beklagten zu 1) kein Verstoß gegen § 5 Abs. 2 bzw. Abs. 3 StVO anzulasten. Überholen darf nach Abs. 2 S. 1 der Regelung nur, wer übersehen kann, dass während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist und (S. 2) wer mit wesentlich höherer Geschwindigkeit als der zu Überholende fährt. Nach Abs. 3 der Norm ist das Überholen bei unklarer Verkehrslage oder wenn es durch ein angeordnetes Verkehrszeichen (Zeichen 276, 277) untersagt ist, verboten.
(aa)
Es spricht schon einiges dafür, dass kein Überholvorgang im Sinne der Regelung vorlag.
Unter „Überholen“ versteht man nach allgemeiner Auffassung, dass ein Verkehrsteilnehmer von hinten kommend an einem anderen vorbeifährt, der sich auf demselben Straßenteil in derselben Richtung bewegt oder nur mit Rücksicht auf die Verkehrslage hält (Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 5 StVO (Stand: 19.01.2022), Rn. 12).
Vorliegend hat sich das vorausfahrende Fahrzeug, hinter welchem der Beklagte zu 1) fuhr, jedenfalls nicht mehr in derselben Richtung bewegt, soweit dieses nach rechts in die D.-straße abbog. Dafür spricht insbesondere die Angabe des Zeugen G. im Ermittlungsverfahren, der angab, dass der Beklagte zu 1) seine Spur bei der Vorbeifahrt nicht verlassen habe, „da das Auto schon so weit abgebogen war, dass genug Platz auf dem Fahrstreifen Richtung X. war“. Von dieser Angabe ist der Zeuge durch die mit Unsicherheiten belastete Bestätigung, dass die Anlage T2 (Bl. 290c d. A.) den Abbiegevorgang in etwa erfasse, nicht wesentlich abgewichen. Hinzu kommt, dass auch der Sachverständige – wie bereits oben ausgeführt – unter Berücksichtigung der ermittelten Kollisionsgeschwindigkeiten und des Abstands in Zweifel gezogen hat, dass der Beklagte zu 1) ein Überholmanöver ausgeführt hat.
Dass schon ein leichtes Einordnen auf der Fahrbahn zum Abbiegen ausreicht, um ein Überholverbot auszuschließen, ergibt sich dabei aus Sinn und Zweck der Regelung, der sowohl den Schutz des Gegenverkehrs als auch des zu überholenden Fahrzeugs bezweckt. Ein Fahrzeug, dass gar nicht in gleicher Richtung weiterfährt, sondern sich an einer Kreuzung bzw. Einmündung von dem überholenden Fahrzeug weg in eine andere Richtung begibt, wird nicht weiter gefährdet (vgl. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 27. Aufl. 2022, StVO § 5 Rn. 13).
(bb)
Selbst wenn man aber einen Überholvorgang annähme, ist nicht ersichtlich, dass dieser insoweit verkehrswidrig war, dass die Geschädigte daraus Rechte herleiten könnte bzw. der Beklagte zu 1) sich seinerseits nicht mehr auf den Vertrauensgrundsatz berufen durfte.
Die Klägerinnen haben zunächst nicht vorgetragen, dass vor Ort ein Verkehrszeichen ein Überholverbot anordnete. Soweit die Klägerinnen auf das Überfahren der durchgezogenen Linie abstellen bzw. der Sperrfläche abstellen, lagen von den Zeugen Y. und G. aus dem Ermittlungsverfahren nur widersprüchliche Aussagen dazu vor, ob diese letztlich überfahren worden ist. Die Einvernahme der Zeugen zu dieser Frage hat für die beweisbelasteten Klägerinnen nichts ihrem Petitum Dienliches erbracht. Die Zeugin Y. vermochte sich hieran nicht mehr zu erinnern und nur auf ihre Angaben im Ermittlungsverfahren zu verweisen. Auch der Zeuge G. vermochte hierzu aus der Erinnerung nichts Belastbares mehr zu bekunden. Soweit beide Zeugen auf weitere Nachfragen sinngemäß angegeben haben, dass der Beklagte zu 1) sich bei dem Ausschervorgang energischer mit dem Motorrad geneigt habe, lässt sich daraus in Ansehung der örtlichen Verhältnisse nicht zwingend auf ein Überfahren der Mittellinie bzw. der Sperrfläche in diesem Bereich schließen. Wie bereits ausgeführt, vermochte jedenfalls der Sachverständige in seinen Rekonstruktionsbetrachtungen unter Berücksichtigung von Weg, Zeit und dem Unfallort kein solches Fahrmanöver als naheliegend zu rekonstruieren.
Durch das Überfahren der durchgezogenen wird ohnehin nicht gegen § 5 StVO verstoßen. Die Markierung spricht ein Überholverbot nämlich nicht unmittelbar aus. Soweit ein Überholen innerhalb der begrenzten Fahrbahn möglich und mit dem nach § 5 IV 2 StVO gebotenen seitlichen Abstand zu anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere zu Fußgängern und Radfahrern, zulässig ist, ist dies erlaubt. Auch wenn ein Verkehrsteilnehmer die Fahrstreifenbegrenzung im Zuge eines Überholvorgangs überfährt, verstößt er damit nicht gegen ein „Überholverbot“ i.S.v. § 5 StVO (OLG Hamm NJOZ 2022, 1003 Rn. 13 m.w.N.).
Die Klägerinnen haben auch keine unklare Verkehrslage dargetan. Sie ist gegeben, wenn der Fahrzeugführer nach allen objektiven Umständen des Einzelfalles mit einem gefahrlosen Überholen nicht rechnen kann (Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 5 StVO (Stand: 19.01.2022), Rn. 44). Das ist u.a. dann der Fall, wenn sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende jetzt sogleich tun wird (NJOZ 2022, 1003 Rn. 15). Ein solcher Fall lag hier jedoch nicht vor. Es steht nicht in Rede, dass das rote Fahrzeug seine Fahrt verlangsamte, nach rechts blinkte, abbiegen wollte und es auch tatsächlich tat.
Eine unklare Verkehrslage im Sinne der Vorschrift kann nicht damit begründet werden, dass sich die Geschädigte – jedenfalls für den Zeugen G. sichtbar – zunächst am Straßenrand und dann auf der Straße befand. Zwar schützt die Vorschrift auch den Querverkehr, der Überholende muss aber ohne konkrete Anhaltspunkte für ein mögliches Fehlverhalten nicht davon auszugehen, dass ein Wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer seiner Wartepflicht nicht nachkommen würde (dazu bereits oben, vgl. auch OLG Köln, Urteil vom 7. Dezember 2010 – 4 U 9/09 -, Rn. 25, juris; Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 5 StVO (Stand: 19.01.2022), Rn. 53). Betreffend die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz gilt das Vorgesagte entsprechend.
Ein Verstoß gegen die Pflichten aus § 5 Abs. 2 StVO scheidet schon deshalb aus, weil die Regelung den Gegenverkehr schützt (Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 5 StVO (Stand: 19.01.2022), Rn. 35).
(d)
Unabhängig von dem Umstand, dass die Klägerinnen für die Behauptung des Überfahrens der durchgezogenen Linie beweisfällig geblieben sind, kann aus der Nichtanordnung eines Überholverbotes zwar nicht geschlossen werden, dass derartige Markierungen keine Auswirkungen auf die Verkehrserwartung anderer Verkehrsteilnehmer eines vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers haben (vgl. OLG Hamm a.a.O. Rn. 14), die durchgehende Linie dient allerdings nur dem Schutz des Längs-, insbes. des Gegenverkehrs, aber etwa nicht des aus einer Seitenstraße einbiegenden, wartepflichtigen Verkehrs (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 27. Aufl. 2022, StVO § 2 Rn. 93/102). Auch kreuzende Fußgänger sind daher nicht von dem Schutzbereich des Zeichens erfasst. Eine Erwartung, hinter dem abbiegenden Fahrzeug werde nicht ggf. ein weiterer Verkehrsteilnehmer fahren, der die Mittellinie ggf. bei einer Vorbeifahrt/einem Überholmanöver schneiden werde, konnte die VN der Klägerinnen sich ob des durch das eingeschaltete Abblendlicht sichtbare und wohl auch hörbare Motorrad ohnehin nicht bilden.
(e)
Letztlich kann dem Beklagten zu 1) nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zur Last gelegt werden, verspätet reagiert zu haben. Die Brems- und Reaktionszeit ist in der Regel mit etwa 1 Sekunde zu bemessen (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 27. Aufl. 2022, StVO § 1 Rn. 55/56) und wird auch von dem Sachverständigen bei seiner Vermeidbarkeitsbetrachtung in Bl. 140 d. BA. sowie den Anlagen zum Protokoll des Termins zur mündlichen Verhandlung zugrunde gelegt, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass ein Zeitraum von 1,4 zur Reaktion blieb.
Dies ließ dem Beklagten zu 1) zwar einen Zeitraum von weiteren 0,4 Sekunden, in dem er eine Vollbremsung hätte auslösen können, für die der Sachverständige bei der Auswertung der Unfallspuren im Bereich vor dem Heck des blauen Dacia, von dem aus die Geschädigte nach dem Ergebnis der Rekonstruktion auf Grundlage der Spuren- und Trümmerverteilung die Fahrbahn betrat, entgegen dem unstreitigen Vorbringen der Parteien keine Anhaltspunkte fand (Bl. 139 d. BA. – S. 18 d. GA). Hierdurch wäre der Beklagte zu 1) nach den weiteren Feststellungen des Sachverständigen aber ohnehin nur 0,2 Sekunden später mit einer allenfalls um 4 km/h verminderten Geschwindigkeit auf die VN der Klägerinnen getroffen.
Dass die VN der Klägerinnen in diesem Fall wesentlich geringere Verletzungen erlitten hätte, ist weder behauptet noch liegt eine entsprechende Abnahme – bei dem hier in Rede stehenden Geschwindigkeitsbereich nahe.
bb)
Nach alledem bliebe im Rahmen der gebotenen Abwägung auf Seiten des Beklagten zu 1) gegenüber dem Verschulden der Geschädigten nur die Berücksichtigung der Betriebsgefahr des Motorrades.
Tritt der Fußgänger so knapp wie im hiesigen Fall – in der Regel in einer Entfernung von unter 50 Metern – auf die Straße, tritt die Betriebsgefahr regelmäßig hinter dem erheblichen Maß der Sorgfaltspflichtenverletzung zurück (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 27. Aufl. 2022, StVO § 25 Rn. 22). Vorliegend ist die Geschädigte nach dem auf Grundlage der oben bereits behandelten Umstände bzw. Parameter lediglich 1,4 Sekunden vor der Kollision in einer Entfernung lediglich 20-25 Metern Entfernung zum Beklagten zu 1) auf die Straße getreten, was dem Beklagten zu 1) keine Möglichkeit ließ, kollisionsvermeidend und in einem Rahmen zu reagieren, der bei Einhaltung sämtlicher Reaktions- und Bremszeiten zu einem erheblich günstigeren Kollisionsausgang geführt hätte (vgl. hierzu Rogler in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 25 StVO (Stand: 01.12.2021), Rn. 185). Vielmehr hätte der Beklagte zu 1) bei einer unterstellten Geschwindigkeit von maximal 50 km/h das Motorrad bei einer Vollbremsung allenfalls 2 Meter vor der Kollision um 4 km/h abbremsen können, ohne dass dies die Kollision verhindert hätte. Bei einer solchen Geschwindigkeitsdifferenz steht – wie schon ausgeführt – auch nicht ernstlich in Rede, dass die Kollision für die Geschädigte erheblich glimpflicher ausgegangen wäre. Der Beklagte zu 1) hatte schlichtweg „keine Chance“.
Soweit der Sachverständige nicht auszuschließen vermochte, dass die Geschädigte sich bereits früher auf der Straße befunden hat, so ist das in Anbetracht der bereits betonten Unwägbarkeiten allein eine von vielen Möglichkeiten. Ist es indes nicht die einzig naheliegende und beweisbare, kann sie der Betrachtung nicht zugrunde gelegt werden. Einen Grundsatz, im Rahmen von Möglichkeiten – seien es ermittelte Annährungsgeschwindigkeiten oder Alternativen und Variablen in einem Geschehensablauf – zulasten der anderen Partei auszulegen, gibt es entgegen der Auffassung der Klägerinnen nicht.
2)
Da die Beklagten dem Grunde nach ausweislich der vorangehenden Ausführungen nicht haften, wobei auch auf deliktischer Grundlage keine Haftung in Betracht kommt, ist der Feststellungsantrag ebenfalls ohne Erfolg.
3) / 4)
Davon ausgehend ist den Anträgen der Klägerin zu 2) aus denselben Gründen kein Erfolg beschieden.
B)
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Eine differenzierende Kostenverteilung nach Streitwerten (§ 100 Abs. 2 ZPO) war auf Seiten der Klägerinnen nicht geboten, da mit Blick auf den erheblicheren Wert des Feststellungsantrages der Klägerin zu 2) jedenfalls keine deutliche unterschiedliche Beteiligung mehr anzunehmen ist.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1, S. 2 ZPO.
Der Streitwert wird auf 332.887,76 EUR festgesetzt.